Am Frei Day sollen Schülern Zukunftskompetenzen vermittelt werden

Um die jungen Generationen auf die komplexen Probleme der Zukunft vorzubereiten, will Landtagsabgeordneter Ralf Nentwich ein neues Konzept in die Schulen bringen: Am Frei Day sollen Schüler selbstständig vielschichtige Probleme lösen. Ähnliches gibt es in Backnang bereits.

Im Stratosphären-Club haben Schülerinnen und Schüler der Tausschule einen Wetterballon gestartet. Die gesamte Organisation haben sie selbst in die Hand genommen. Nur ein Beispiel dafür, wie Kinder wichtige Kompetenzen für die Zukunft lernen können. Foto: privat

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Im Stratosphären-Club haben Schülerinnen und Schüler der Tausschule einen Wetterballon gestartet. Die gesamte Organisation haben sie selbst in die Hand genommen. Nur ein Beispiel dafür, wie Kinder wichtige Kompetenzen für die Zukunft lernen können. Foto: privat

Von Kristin Doberer

Backnang. Die Probleme in unserer globalen Welt werden immer vielschichtiger, die Herausforderungen immer komplexer. Wie bereitet man die zukünftige Generationen darauf vor, diese Probleme anzugehen? Nicht im aktuellen Schulsystem, meint Landtagsabgeordneter Ralf Nentwich (Grüne). Als Sprecher für digitale Bildung und Zuständiger in der Fraktion für Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) möchte er sich für ein neues Lernformat starkmachen. Beim sogenannten Frei Day sollen die Schülerinnen und Schüler Zeit im Kernstundenplan bekommen, um selbstständig innovative und konkrete Lösungen für Herausforderungen zu entwickeln und ihre Projekte auch tatsächlich umzusetzen. „Etwa vier Stunden am Stück sollen sich die Kinder jede Woche gezielt den Zukunftsfragen widmen“, sagt Nentwich. In jahrgangsübergreifenden Teams soll so weitgehend selbstständig an Projekten gearbeitet werden, die zum Beispiel „in den Aufbau einer Schülerfirma bis hin zum Einführen von nachhaltigem Essen in der Mensa“ führen, berichtet der Landtagsabgeordnete. Der Unterschied zur üblichen Projektarbeit oder Projekttagen an Schulen: Das Thema sollen die Kinder selbst wählen; von den Lehrkräften wird weder die Fragestellung noch ein konkreter Lösungsansatz vorgegeben. Die Lehrerinnen und Lehrer agieren vielmehr als Lernbegleiter, die als zusätzliche Ressource zur Verfügung stehen.

Kinder sollen unter anderem kritisches Denken und Kollaboration lernen

Die einzige Vorgabe für die Kinder: Die Themenwahl soll sich an den sogenannten Global Goals der Vereinten Nationen orientieren. Beispiele für solche Fragen sind: Wird es in 30 Jahren noch Bäume geben? Was führt zu Konflikten, Terror und Flucht? Warum gibt es Rassismus? Oder: Was können wir gegen Armut tun? Nentwich verspricht sich so einiges von einem solchen Konzept: „So lassen sich Schulen weiter öffnen und ermöglichen mehr projektorientiertes Arbeiten. Die Kinder lernen Kompetenzen für die Zukunft, sie lernen Kollaboration, kritisches und kreatives Denken. Der Freiraum ermöglicht viel Kreativität, sie lernen, Verantwortung zu übernehmen, und merken, dass sie in der Welt etwas verändern können.“

In Backnang ist das Konzept nicht neu

Einen ganz ähnlichen Ansatz setzt die Gemeinschaftsschule in der Taus bereits seit etwa drei Jahren um, wenn auch nicht unter diesem Namen. „Bei ‚Frei Day‘ denken sonst immer alle, dass die Schüler frei bekommen“, erklärt Schulleiter Jochen Nossek. Dabei bedeute das „Frei“ in dem Namen gar nicht Freizeit für die Schülerinnen und Schüler, sondern vielmehr Freiraum. Stattdessen gibt es verschiedene Angebote an der Schule, durch welche die Schüler selbstständig arbeiten und zusätzliche Kompetenzen erlernen können. So findet in regelmäßigen Abständen ein Solution Day statt. An diesem Tag beschäftigt sich eine Lerngruppe mit einem speziellen Problem. Dieses Problem soll von der Gruppe allein gelöst werden. „Also ein sehr fehlerexplorativer Ansatz, bei welchem alle Schülerinnen und Schüler aber viel lernen“, meint der Schulleiter. Die Lehrkräfte stünden erst dann beratend zur Seite, wenn ein Problem aufgetreten ist. „Durch diese Primärerfahrungen, gerade auch durch Fehler, lernen sie mehr, als wenn ihnen jemand nur davon erzählt“, berichtet Nossek. Herausforderungen, die die Schüler beim Solution Day angehen, seien zum Beispiel die Planungen von Skiausfahrten und Schullandheimen, die Planung des Stands am Backnanger Weihnachtsmarkt oder die Einführung eines Schülercafés.

Clubs sollen Kinder mit zukunftsfähigen Kompetenzen ausstatten

Aktuell beschäftigen sich einige Schülerinnen und Schüler außerdem mit den Vorbereitungen für die Special Olympics, bei denen die Tausschule auch als Host agiert. „Die Kinder kümmern sich da beispielsweise um solche Dinge wie das Catering, hier haben sie selbstständig Kontakt zum Kaufland aufgenommen.“ Dabei müssen die Kinder nicht selten Briefe und Anfragen schreiben, Unternehmen selbst anrufen und manchmal auch Sponsoren suchen und Akquise betreiben. Neben dem Solution Day gibt es in der Backnanger Schule aber noch weitere Angebote, welche die Schülerinnen und Schüler „zukunftsfähig machen“ sollen: Zusätzlich zum klassischen Unterricht gibt es Clubs, in die sich die Schüler zu Beginn des Jahres eintragen. 25 verschiedene gibt es zur Auswahl, zum Beispiel den Handwerker-Club, in dem ein Pizzaofen gebaut wird und kaputte Geräte repariert werden; den Nachbarschafts-Club, bei dem Arbeiten wie Einkaufen oder Rasenmähen in der Nachbarschaft erledigt werden, oder auch den Stratosphären-Club, der einen Wetterballon starten lässt und die Daten auswertet. Dabei mussten die Schüler zum Beispiel selbst Genehmigungen von Luftfahrtbehörden einholen, eine Versicherung organisieren und den Wetterballon zusammenbauen.

Diese Clubs können von Schülerinnen und Schülern der Jahrgangsstufen 4 bis 10 besucht werden. „Komplexe Problem brauchen mehr als das reine Wissen, das im klassischen Unterricht vermittelt wird. Um sie zu lösen, braucht man überfachliche Kompetenzen, man muss mit verschiedensten Leuten zusammenarbeiten können und flexibel auf Herausforderungen reagieren können“, nennt Nossek nur einige von mehreren Future Skills, die durch den Solution Day und die Clubs vermittelt werden sollen.

Vielen gefallen die Stunden besser als der normale Unterricht

Die Schule arbeitet so schon seit mehreren Jahren, hatte also auch schon Zeit, die Methoden zu evaluieren. „Besonders die Clubs kommen bei den Schülerinnen und Schülern sehr gut an. Viele waren der Meinung, dass diese viel besser wären als Unterricht. Das ist interessant, zumal in den Clubs sehr wohl Inhalte und Kompetenzen aus dem Bildungsplan vermittelt werden“, so der Schulleiter. Und auch die Lehrkräfte haben schon positive Erfahrungen gesammelt. So entdecke man bei Schülern immer wieder neue und wertvolle Kompetenzen, auch wenn diese vielleicht nicht im Bildungsplan stehen. Stärken der Schüler könne man besser entdecken und fördern. „Und die Schüler selbst können zeigen, was sie können“, so Nossek. Außerdem sei die Schulgemeinschaft insgesamt deutlich sozialer geworden, was sich durch Clubs wie den Nachbarschafts-Club auch vermehrt in der Öffentlichkeit herumspricht.

Clubs und Solution Day sind deutlich aufwendiger als klassischer Unterricht

Aber der Schulleiter macht auch deutlich: „Man muss das schon wollen, es ist deutlich aufwendiger als eine klassische Unterrichtsstunde, der ein Buch oder Arbeitsblatt zugrunde liegt.“ Als Lehrkraft müsse man auch bereit sein, unvorbereitet auf eine Herausforderung zu treffen. „Man weiß ja nie genau, was einen in der nächsten Stunde erwartet. Zum Beispiel bei der Nachbarschaftshilfe kann es um den Aufbau eines Gewächshauses gehen, oder um das Anschließen einer Spülmaschine. Und manchmal hat die Lehrkraft auch nicht sofort eine Lösung parat“, berichtet der Schulleiter. Das erfordere mehr Einsatz von der Lehrkraft und falle vielen gerade zu Beginn auch schwer, da sie durch ihre Ausbildung doch noch sehr im klassischen Stundenplan denken, wie Nossek berichtet. Und auch die Schülerinnen und Schüler müssten das eigenständige Arbeiten erst lernen.

Trotzdem ist zumindest Ralf Nentwich überzeugt davon. Er hat sich als Ziel gesetzt, das Konzept des Frei Day – ob es nun so genannt wird oder nicht – noch bekannter zu machen und in möglichst vielen Schulen Baden-Württembergs zu etablieren. Laut der Website der Initiative gibt es in Baden-Württemberg aktuell erst zwei Schulen, die einen Frei Day eingeführt haben. „Aber es gibt schon viele Schulen, die bereits Ansätze davon umsetzen, oder bei denen das einfach anders genannt wird“, so Nentwich.

Für die Einführung eines solchen Tags, der übrigens nicht zwingend auf einen Freitag gelegt werden muss, brauche es keine Verordnung. „Theoretisch könnten die Schulen einen Frei Day sofort einführen. Aber wir müssen für mehr Akzeptanz sorgen und die Schulleitungen unterstützen“, so Nentwich. Denn auch er sieht ein, dass die Einführung eines solchen Konzepts bei den ohnehin schon vielfältigen Herausforderungen an die Schulleitungen schwierig werden könnte. Man müsse den Schulleitern Mut zusprechen und ein entsprechendes Unterstützungssystem mit Fortbildungen und Ansprechpartnern aufbauen. Dafür könnte man in der Zukunft zum Beispiel einen Thinktank etablieren.

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Erstellt:
18. Januar 2023, 06:00 Uhr

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