„Armin Laschet ist Unrecht getan worden“

Das Interview Die neu gewählte Bundestagsabgeordnete Inge Gräßle hat ihre Arbeit gleich nach der Wahl aufgenommen. Trotz des schlechten Abschneidens ihrer Partei hofft die CDU-Politikerin weiter auf eine Regierungsbeteiligung.

Angekommen in Berlin: Die neue Bundestagsabgeordnete für den Wahlkreis Backnang/Schwäbisch Gmünd, Inge Gräßle, hatte in der vergangenen Woche bereits mehrere Sitzungen in der Hauptstadt. Foto: E. Gödde

Angekommen in Berlin: Die neue Bundestagsabgeordnete für den Wahlkreis Backnang/Schwäbisch Gmünd, Inge Gräßle, hatte in der vergangenen Woche bereits mehrere Sitzungen in der Hauptstadt. Foto: E. Gödde

Herzlichen Glückwunsch zum Gewinn des Direktmandats, Frau Gräßle! Aber können Sie sich überhaupt darüber freuen angesichts des miserablen Ergebnisses Ihrer Partei?

Ich freue mich schon, weil es für mich ein Vertrauensbeweis und ein Vertrauensvorschuss ist. Aber natürlich hätte ich mir für die CDU ein besseres Ergebnis gewünscht und ich glaube, auch für Deutschland wäre eine stärkere Union besser gewesen.

Wie haben Sie Ihre erste Woche als neu gewählte Abgeordnete erlebt?

Ich habe die Woche fast ausschließlich damit verbracht, mich für Glückwünsche zu bedanken (lacht). Zwei Tage war ich in Berlin: Wir hatten die erste Fraktionssitzung, die erste Landesgruppensitzung und auch die Arbeitsgruppen der Frauen und der Arbeitnehmer haben schon getagt. Die Formalien haben wir jetzt hinter uns gebracht, aber klar ist, wir müssen auch noch mal über den Wahlkampf reden und uns inhaltlich neu aufstellen.

Sie übernehmen das Direktmandat von Ihrem Parteifreund Norbert Barthle. Werden Sie auch sein Wahlkreisbüro in Schwäbisch Gmünd und die Mitarbeiter übernehmen?

Das Büro von Norbert Barthle ist in seinem Privathaus, da werde ich nicht einziehen. Aber ich hatte ja schon im Wahlkampf ein Büro in Gmünd. Jetzt muss ich mal schauen, ob ich den Mietvertrag verlängern kann. Und ich will auch versuchen, in Backnang eine größere Präsenz zu sichern. Die Mitarbeiter von Norbert Barthle werde ich gerne übernehmen, wenn sie das wollen.

Der Wahlkreis besteht aus zwei Gebieten, die sonst nicht viel miteinander zu tun haben. Erschwert das Ihre Arbeit als Abgeordnete?

Der Wahlkreis ist nicht ganz einfach, weil er aus 34 Städten und Gemeinden besteht – der Wahlkreis Waiblingen hat zum Beispiel nur 17. Und wir haben hier alles doppelt: zwei Handwerkskammern, zwei IHKs, zwei Bauernverbände, zwei CDU-Kreisverbände. Der Wahlkreis ist geprägt vom ländlichen Raum, dessen Dynamik mich beeindruckt, dessen Mobilitätsprobleme aber auch. Die Abgeordneten sind dem ländlichen Raum hier besonders verpflichtet und in meinem Fall auch besonders verbunden. Öffentlicher Nahverkehr mit kreativen Lösungen, Arbeitsplätze der Zukunft und Bildung, der Zusammenhalt der Gesellschaft sind die großen Themen. Im Ostalbkreis bin ich sicher bekannter, weil ich als Europaabgeordnete schon für diesen Bereich zuständig war, aber ich spüre auch im Backnanger Raum sehr viel Neugierde auf mich.

Sie sind neu im Bundestag, haben aber mehr als 20 Jahre Parlamentserfahrung in Stuttgart und Brüssel. Ein Platz auf den hinteren Bänken des Parlaments wird Ihnen da nicht genügen, oder?

Keine Sorge, meine Stimme werden Sie in jedem Fall hören. Die Fraktion wird meine bisherige Parlamentserfahrung als Chance sehen, weil sie künftig stärker darauf achten will, wie die Berliner Gesetzgebung umgesetzt wird. Dafür bringe ich einiges mit. Jetzt bin ich wie alle anderen aber erst einmal zum Abwarten verdonnert, bis klar ist, welche Regierung es geben wird.

Norbert Barthle hat am Wahlabend gesagt, mit Markus Söder als Kanzlerkandidat hätte die Union zehn Prozentpunkte mehr geholt, teilen Sie seine Meinung?

Nein, ich teile diese Einschätzung nicht. Ich glaube, diese Wahl wäre für jeden Kandidaten sehr schwer geworden nach dieser langen Zeit an der Regierung. Zu glauben, man müsse nur den Kopf auswechseln und dann wird alles gut, ist falsch.

Was ist Ihre Erklärung für dieses Ergebnis? Selbst im Wahlkreis Backnang/ Schwäbisch Gmünd, der früher eine CDU-Hochburg war, kommt Ihre Partei fast nirgends mehr über 30 Prozent. Das muss Sie doch alarmieren?

Absolut, aber das ist eine längere Entwicklung: Schon unser Wahlergebnis 2017 war nicht gut und wir haben seitdem außer in Bremen keine Wahl mehr gewonnen. Mit diesem Trend müssen wir uns auseinandersetzen.

Auffallend ist, dass die Union vor allem bei den jungen Wählern nicht mehr ankommt. Bei den unter 25-Jährigen liegt ihr Stimmanteil nur noch bei zehn Prozent. Ist aus der einstigen Volkspartei eine Seniorenpartei geworden?

Nein, aber wir sollten uns schon fragen, warum die FDP bei den jungen Wählern so weit vorne liegt. Das hat aus meiner Sicht auch mit dem Coronathema zu tun, von dem die jungen Menschen ganz besonders betroffen waren. Da gibt es Studenten im vierten Semester, die haben noch nie einen Fuß in die Uni gesetzt. Die FDP ist bei diesem Thema einen dezidiert anderen Kurs gefahren als die Union und hat davon offensichtlich profitiert. Ich glaube, dass wir die Coronapandemie in der CDU noch einmal aufarbeiten sollten.

Ist es für Sie vorstellbar, dass Armin Laschet nach diesem Wahldebakel trotzdem noch Bundeskanzler wird?

Ich würde mir eine möglichst breite Regierung wünschen, in der viele Strömungen vertreten sind, weil man nur so ausgewogene Entscheidungen treffen kann. Ich glaube, wenn wir eine Jamaika-Koalition anführen würden, hätten wir eine breitere gesellschaftliche Grundlage als bei einer Ampel. Ich traue Armin Laschet die Kanzlerschaft weiterhin zu. Ich finde, ihm ist in diesem Wahlkampf Unrecht getan worden. Wenn er die Chance hätte zu zeigen, was er kann, würden ihm viel mehr Menschen dieses Amt zutrauen.

Vom früheren SPD-Vorsitzenden Franz Müntefering stammt der Satz „Opposition ist Mist“. Aber Hand aufs Herz: Wäre Opposition für die Union jetzt nicht sogar besser, um sich personell und inhaltlich neu auszurichten?

Da kann ich Müntefering nur recht geben. Ich kenne jede Menge politische Parteien, denen die Oppositionsjahre gar nichts gebracht haben. In der Regierungsverantwortung passiert das, was passieren muss, nämlich dass sich eine Gruppe zusammenraufen muss zur Geschlossenheit. Das habe ich in Oppositionsjahren noch nie erlebt.

Die Fragen stellte Kornelius Fritz.

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Erstellt:
2. Oktober 2021, 06:00 Uhr

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