Angriffe auf Kliniken und Mediziner

Arzt aus Gaza: Kein Waffenstillstand – „Wir brauchen ein Ende dieses Krieges“

Die humanitäre Lage in Gaza spitzt sich weiter zu. Wie können Ärzte so noch arbeiten? Welche Herausforderungen müssen sie überwinden? Ein Vertreter von Ärzte ohne Grenzen erzählt.

Ein Fahrzeug von „Ärzte ohne Grenzen” fährt an den zerstörten Gebäuden in Jabalia im Nordosten des Gazastreifens vorbei (Archivfoto).

© MSF

Ein Fahrzeug von „Ärzte ohne Grenzen” fährt an den zerstörten Gebäuden in Jabalia im Nordosten des Gazastreifens vorbei (Archivfoto).

Von Gülay Alparslan

Eigentlich sollte ein Telefongespräch mit Dr. Mohammed Abu Mughaiseeb, dem stellvertretenden medizinischen Koordinator von Ärzte ohne Grenzen in Deir al-Balah im Gazastreifen, stattfinden. Doch die Umstände vor Ort machen eine mündliche Kommunikation unmöglich. Stattdessen erreichen uns seine Antworten schriftlich – verfasst zwischen Patientenbesuchen, Stromausfällen und Bombenalarm.

Die Lage im Gazastreifen wird von Tag zu Tag schlimmer: Medizinische Einrichtungen sind überfüllt, oft ohne Strom oder Medikamente. Krankenhäuser geraten immer wieder ins Visier der israelischen Armee. Erst vor zwei Tagen wurde erneut ein Krankenhaus im Gazastreifen Ziel eines Luftangriffs. Beim Beschuss des Europäischen Krankenhauses in Khan Younis kamen laut einem Bericht der BBC unter Berufung auf lokale Quellen 28 Menschen ums Leben, Dutzende wurden verletzt.

Demnach warfen israelische Kampfflugzeuge sechs Bomben gleichzeitig ab, die sowohl den Innenhof des Krankenhauses als auch das umliegende Gelände trafen. Die israelische Armee bestätigte den Angriff, gab jedoch laut BBC an, es habe sich um einen „präzisen Schlag“ gegen Hamas-Terroristen gehandelt.

Medizinisches Personal in Gaza in ständiger Alarmbereitschaft

Wie sich der Alltag für Ärztinnen und Ärzten im Gazastreifen gestaltet, ist aus der sicheren Distanz Europas kaum vorstellbar. „Wir leben jetzt seit mehr als 500 Tagen im Krieg. Es gibt sehr viele Angriffe – und keine sicheren Orte mehr. Wenn man gerade auf dem Weg ins Krankenhaus ist, kann es sein, dass in der Nähe Angriffe stattfinden und man selbst getroffen wird“, schreibt Dr. Mughaiseeb.

An erholsamen Schlaf sei kaum zu denken, denn die nächtlichen Luftangriffe hielten das medizinische Personal in ständiger Alarmbereitschaft. Dr. Mughaiseeb berichtet, dass es praktisch unmöglich sei, sich nach der Arbeit zu erholen: „Wenn ich morgens aufwache, besteht mein Frühstück nur aus Kaffee.“

Selbst die Körperpflege sei eine Herausforderung, da der Zugang zu sauberem Wasser stark eingeschränkt sei. Trotz all dem machen er und seine Kolleginnen und Kollegen sich jeden Tag auf den Weg ins Krankenhaus – irgendwie. Oft bliebe ihnen nichts anderes übrig, als zu Fuß zum Krankenhaus zu gehen. Der öffentliche Verkehr sei weitgehend zum Erliegen gekommen und es gebe keine Taxis mehr. Die Erschöpfung sei überall spürbar.

Eigentlich nötige Behandlungen in Gaza nicht mehr möglich

Trotz der katastrophalen Bedingungen vor Ort arbeitet das medizinische Personal weiter – so gut es eben geht. „Natürlich ist es schwierig angesichts der Sicherheitslage und weil die Leute immer wieder ihren Wohnort wechseln müssen. Die meisten leben in provisorischen Unterkünften“, erklärt der Mediziner. Viele hielten dennoch an ihrer Aufgabe fest – aus Überzeugung und dem Willen zu helfen. „Trotz der vielen Schwierigkeiten wollen wir den Menschen helfen, die als Patientinnen und Patienten in die Kliniken kommen.“

Doch längst sei nicht mehr alles leistbar. Die Ressourcen seien knapp, die medizinischen Möglichkeiten stark eingeschränkt. „Vieles können wir nicht mehr leisten. Eigentlich nötige Behandlungen können wir oft nicht mehr anbieten. Viele Patientinnen und Patienten bräuchten eine medizinische Versorgung außerhalb des Gazastreifens, weil wir sie nicht mehr angemessen behandeln können“, so Dr. Mughaiseeb. Auch an dringend benötigten Medikamenten mangele es.

Wie dramatisch die Lage ist, habe sich zuletzt am vergangenen Donnerstag gezeigt: Bei Luftangriffen in unmittelbarer Nähe ihres Gesundheitszentrums kamen nach Angaben des Gesundheitsministeriums 33 Menschen ums Leben, mehr als 90 wurden verletzt. „Unsere Teams haben ihr Bestes getan, um Erste Hilfe zu leisten, die Verletzten zu stabilisieren und sie ins Al-Schifa-Krankenhaus zu bringen – in dem Wissen, dass man dort eigentlich gar nicht die Kapazitäten hat, um all diese Verletzten aufzunehmen“, schreibt Dr. Mughaiseeb. Wenn auf einmal dreißig Patienten eingeliefert würden, könne man erst einmal nur sechs operieren. Das heißt, einige können sterben.

Man kann sich in Gaza jederzeit am falschen Ort befinden

Für ihn und sein Team sei das mental schwer zu verkraften gewesen. Die Einschläge am vergangenen Donnerstag waren laut dem Mediziner so nah, dass sie sich nirgends sicher fühlen. Bei dem Angriff seien zwei Mitarbeitende von Ärzte ohne Grenzen verletzt worden, schreibt Dr. Mughaiseeb – „zum Glück nur leicht“.

Die anhaltende Blockade humanitärer Hilfsgüter hat nicht nur gravierende Auswirkungen auf die medizinische Versorgung der Patientinnen und Patienten, sondern auch auf den Alltag des medizinischen Personals selbst. Die Lage sei allgemein schwierig und bereite ihm und seinem Team Sorgen: „Einerseits ist da die Sicherheitslage. Man kann sich jederzeit am falschen Ort befinden. Selbst Krankenhäuser sind Ziele von Angriffen. Andererseits ist die Versorgung mit Lebensmitteln und Wasser schwierig. Jeden Tag ist es aufs Neue eine Herausforderung, an Essen und sauberes Wasser zu kommen.“ Genau wie der Rest der Bevölkerung haben auch die medizinischen Teams nur eine Mahlzeit am Tag.

Besonders belastend für das medizinische Personal sind die Momente, in denen das Ausmaß des Leids die Grenzen des Erträglichen übersteigt. Zwar seien die Teams darauf vorbereitet, mit Ausnahmesituationen umzugehen, so Dr. Mughaiseeb, doch die Realität im Gazastreifen übertreffe alles: „Unsere Teams sind ausgebildet, mit Ausnahmesituationen fertigzuwerden. Sie wissen, wie man Triage durchführt. Wenn jedoch so viele Verletzte auf einmal eingeliefert werden, wie es teilweise nach den Angriffen der Fall war, ist es schwierig zu entscheiden, wer zuerst behandelt werden soll.“

„Wenn du losgehst, lässt du deine Familie zurück“

Hinzu komme die ständige Angst um das eigene Leben und das der Familie. „Wenn du losgehst, lässt du deine Familie zurück und deine Gedanken kreisen die ganze Zeit um deine Familie“, so Dr. Mughaiseeb. Und nicht zuletzt seien es die menschlichen Tragödien, die sich tief ins Gedächtnis eingraben: „Stellen Sie sich vor, Sie sehen ein Kind, dem Arme und Beine amputiert wurden - und es gibt nichts, was man tun kann, um zu helfen.“

Am Ende seiner Nachricht äußert der Arzt einen Wunsch, der für die Menschen im Gazastreifen mehr bedeutet, als Worte fassen können: „Ich hoffe, dass dieser Krieg endet. Wir wollen keinen Waffenstillstand – wir brauchen ein Ende dieses Krieges. Das ist alles.“

Teams von Ärzte ohne Grenzen haben einen Bulldozer gemietet, um die Trümmer der beschädigten Klinik des Gesundheitsministeriums zu beseitigen. In der Stadt Dschabalia im Norden des Gazastreifens richten die Teams eine neue MSF-Klinik ein (Archivfoto).

© Nour Alsaqqa/MSF

Teams von Ärzte ohne Grenzen haben einen Bulldozer gemietet, um die Trümmer der beschädigten Klinik des Gesundheitsministeriums zu beseitigen. In der Stadt Dschabalia im Norden des Gazastreifens richten die Teams eine neue MSF-Klinik ein (Archivfoto).

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Erstellt:
15. Mai 2025, 14:30 Uhr
Aktualisiert:
15. Mai 2025, 14:43 Uhr

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