Auch der OB hat ein Recht auf Freizeit

Bürgermeister, ein Traumberuf? Für viele Absolventen der Verwaltungshochschulen gilt das heute nicht mehr. Ein Grund für das nachlassende Interesse ist die hohe zeitliche Belastung, die das Amt mit sich bringt. Aber muss ein Stadtoberhaupt wirklich immer im Dienst sein?

Maximilian Friedrich begrüßt im vergangenen August die Besucher beim Oberliga-Spiel der TSG Backnang gegen die Stuttgarter Kickers. Um beim Spiel dabei sein zu können, hatte sich der Backnanger OB von der Hochzeit eines guten Freundes verabschiedet. Foto: A. Becher

© Alexander Becher

Maximilian Friedrich begrüßt im vergangenen August die Besucher beim Oberliga-Spiel der TSG Backnang gegen die Stuttgarter Kickers. Um beim Spiel dabei sein zu können, hatte sich der Backnanger OB von der Hochzeit eines guten Freundes verabschiedet. Foto: A. Becher

Von Kornelius Fritz

Rems-Murr. In zwei Wochen wählt Waiblingen einen neuen Oberbürgermeister, doch statt Spannung verspricht die Wahl nur Langeweile. Denn um die Nachfolge des scheidenden Andreas Hesky bewirbt sich nur ein einziger Kandidat: der 40-jährige Sebastian Wolf, der momentan noch Erster Bürgermeister in Ehingen ist. Sicher gibt es verschiedene Gründe, warum sich kein Gegenkandidat gefunden hat. So kann Wolf nicht nur mit Fachwissen, sondern auch mit Ortskenntnis punkten, denn er ist in Waiblingen aufgewachsen. Vielleicht erschien manchem eine Kandidatur, die viel Zeit und Geld kostet, deshalb aussichtslos.

Andererseits ist Waiblingen kein Einzelfall: Vor allem in kleineren Gemeinden konnte man zuletzt froh sein, wenn es bei Bürgermeisterwahlen noch wenigstens eine qualifizierte Bewerbung gab. So waren etwa Bernhard Bühler (Oppenweiler), Sabine Welte-Hauff (Aspach) und Patrizia Rall (Allmersbach im Tal) jeweils die einzigen Kandidaten mit Verwaltungserfahrung. „Die Breite an qualifizierten Bewerbungen ist rückläufig“, bestätigt Steffen Jäger, Präsident des Gemeindetags Baden-Württemberg. Während Bürgermeister früher noch das Berufsziel vieler Absolventen an den Verwaltungshochschulen war, bevorzugen inzwischen viele eine Beamtenlaufbahn, zum Beispiel in einem Ministerium, wo sie bei ähnlicher Bezahlung ein geregelter Job mit festen Arbeitszeiten erwartet.

Von der Hochzeit des Freundeszum Termin im Fußballstadion

Für einen Bürgermeister oder Oberbürgermeister ist das utopisch: „Wer sich für dieses Amt entscheidet, dem muss klar sein, dass dies nicht mit Arbeitszeiten von 9 bis 17 Uhr machbar ist“, sagt der Backnanger OB Maximilian Friedrich. Ob bei der Hauptversammlung der Feuerwehr oder dem Jahreskonzert des Musikvereins: Vom obersten Repräsentanten der Stadt wird erwartet, dass er auch abends und am Wochenende Präsenz zeigt. Für Maximilian Friedrich, dessen Vater schon Bürgermeister war, ist das selbstverständlich. Gleichzeitig bedeutet das aber auch, dass Familie und private Aktivitäten häufig zurückstehen müssen. Als die TSG Backnang im vergangenen August die Stuttgarter Kickers zum Spitzenspiel in der Fußball-Oberliga empfing, verschwand der OB dafür sogar für zwei Stunden von der Hochzeit eines guten Freundes. „100 Prozent abschalten kann man kaum“, sagt Friedrich. Selbst wenn er Urlaub hat, lässt er sich per Handy über wichtige Entwicklungen im Rathaus informieren.

Bei seinem Winnender Amtskollegen Hartmut Holzwarth ist das nicht anders: „Wenn an Neujahr ein Haus ausbrennt, dann muss ich vor Ort sein“, nennt der OB ein ganz aktuelles Beispiel. Auch wenn er privat zum Einkaufen nach Winnenden geht, muss er immer damit rechnen, von Bürgerinnen und Bürgern angesprochen zu werden. Seine Kinder seien davon manchmal schon ziemlich genervt, räumt der dreifache Vater ein. Aber das gehöre nun mal zu seinem Berufsbild.

Muss ein Oberbürgermeister also immer im Dienst sein und arbeiten bis zum Umfallen? Nein, findet Steffen Jäger: „Auch ein Bürgermeister hat ein Recht auf private Freiräume. Das ist legitim.“ Zumal sich die Gesellschaft verändert habe: Das traditionelle Modell des in der Regel männlichen Rathauschefs, der von früh bis spät arbeitet, funktioniert meist nämlich nur dann, wenn es eine Ehefrau gibt, die eigene berufliche Ambitionen zurückstellt und klaglos sämtliche familiären Verpflichtungen übernimmt.

Jäger wünscht sich deshalb eine offene Diskussion über die Erwartungen an politische Spitzenämter: „Unsere Gesellschaft entwickelt sich weiter“, sagt der Gemeindetagspräsident, der selbst vier Jahre Bürgermeister in Oppenweiler war. Junge Führungskräfte wollten heute nicht nur im Rathaus, sondern auch in der Familie Verantwortung übernehmen, und das sei auch gut so: „Wir wollen ja gerade Bürgermeister, die so geerdet sind, dass sie die Probleme des echten Lebens noch kennen.“

Landtagsabgeordnete testen politikfreien Sonntag

Vorbild könnten mehrere Landtagsabgeordnete aus dem Kreis Esslingen sein, die sich vor einem Jahr parteiübergreifend auf einen „politikfreien Sonntag“ verständigt haben. Einer von ihnen ist der SPD-Abgeordnete Nicolas Fink, der von 2006 bis 2018 Bürgermeister der Gemeinde Aichwald war. Mit der Entscheidung, sonntags in der Regel keine beruflichen Einladungen mehr anzunehmen, habe man viel Aufmerksamkeit und ein großes Medienecho erzielt, berichtet Fink, negative Rückmeldungen habe es so gut wie keine gegeben. Die echte Bewährungsprobe steht allerdings noch aus, denn durch Corona war das Veranstaltungsprogramm zuletzt ohnehin stark reduziert. „Es ging uns mit unserer Aktion darum, zu sensibilisieren und einen Denkprozess auszulösen“, erklärt Fink. Wobei er nicht ausschließen will, bei einer besonders wichtigen Veranstaltung an einem Sonntag auch mal eine Ausnahme zu machen.

Wäre ein solches Modell auch für einen OB oder Bürgermeister denkbar? „In meiner Anfangszeit als Bürgermeister hätte ich mich das nicht getraut“, gibt Nicolas Fink zu. Inzwischen glaubt er: Wenn er seinem Gegenüber erklärt, dass er den Sonntag braucht, um mit seiner Tochter auf die Mathearbeit zu lernen, wird das akzeptiert. „Offenheit setzt sich durch“, sagt der SPD- Abgeordnete. Niemand müsse ein schlechtes Gewissen haben, wenn er auch mal einen Termin aus privaten Gründen absagt. „Ich glaube, dass unsere Gesellschaft da schon viel weiter ist als vor einigen Jahren.“ Finks Backnanger Fraktionskollege Gernot Gruber hat sich der Initiative trotzdem nicht angeschlossen: Für ihn sei es ein Zeichen der Wertschätzung gegenüber Vereinen und Veranstaltern, dass er sich auch am Sonntag bei ihnen blicken lasse. Sein überdurchschnittliches Ergebnis bei der letzten Landtagswahl führt Gruber auch auf seine hohe Präsenz im Wahlkreis zurück. Allerdings sagt er auch: „Ich bin froh, dass ich erst Abgeordneter geworden bin, als ich keine kleinen Kinder mehr hatte.“

Auch für Maximilian Friedrich und Hartmut Holzwarth ist ein politikfreier Sonntag derzeit kein Thema. Beide betonen allerdings, dass sie sich in ihrem Berufsalltag bewusst private Freiräume einplanen. Um näher bei seiner Familie zu sein, arbeitet Friedrich wenn möglich mindestens einen halben Tag pro Woche im Homeoffice. Auch bei den Spielen seiner Tischtennismannschaft versucht der OB wenn möglich dabei zu sein: „Ich will das nicht ganz aufgeben, weil ich es wichtig finde, dass ich noch einen Ausgleich habe.“

Auch bei Hartmut Holzwarth hat der Sport seinen festen Platz im Kalender. Das sei wiederum der Vorteil seines Amts, dass er sich seine Zeit relativ frei einteilen könne, sagt der Winnender OB. So sei es ihm auch mal möglich, zwischen zwei Terminen schwimmen oder laufen zu gehen. Außerdem gehe er oft über Mittag nach Hause, um zusammen mit seiner Familie zu essen. „Das empfinde ich als echtes Privileg.“

Zum Artikel

Erstellt:
21. Januar 2022, 06:00 Uhr

Artikel empfehlen

Artikel Aktionen

Lesen Sie jetzt!

Stadt & Kreis

Gesellinnen und Gesellen im Rems-Murr-Kreis werden ausgezeichnet

In dieser Woche hat die Lossprechungsfeier der Kreishandwerkerschaft Rems-Murr stattgefunden. In der Barbara-Künkelin-Halle in Schorndorf sind bei dieser Gelegenheit auch die Auszeichnungen an die besten Junghandwerkerinnen und Junghandwerker verliehen worden.

Stadt & Kreis

Das Bildhafte der Kinderkreuzwege spricht Kinder im Herzen an

Viele Kirchengemeinden im Raum Backnang organisieren Kinderkreuzwege und versuchen so, die Leidensgeschichte Jesu auf kindgerechte Art und Weise zu vermitteln. Der Schwerpunkt der Verkündigung liegt dabei nicht auf der grausamen Passion, sondern auf der frohen Osterbotschaft.

Stadt & Kreis

Osterräuchern des Angelsportvereins Althütte

Forellen im Rauch: Seit 30 Jahren räuchert Ralf Wurst die unterschiedlichsten Fische. Beim Osterräuchern des Angelsportvereins Althütte sind es jedes Jahr einige Hundert Forellen. Wie es der 49-jährige Vereinsvorsitzende macht, erläutert er Schritt für Schritt.