Auf „Diktatour“ in Unterweissach

Das dreiteilige Projekt „Unterweissach im Gleichschritt“ arbeitet die nationalsozialistische Vergangenheit des Weissacher Teilorts auf. Den Anfang macht die App „Diktatour“, die Schülern und Interessierten Geschichtswissen vor Ort vermittelt.

Jürgen Hestler, Carolin Hestler und Roxanne Adler (von links nach rechts) stehen in der Scheune des Heimatmuseums Weissacher Tal. Im Vordergrund hängt der Getreidesack mit dem Hakenkreuz (ein Ausstellungsstück), der den Anstoß zu dem Projekt „Unterweissach im Gleichschritt“ gab. Fotos: A. Becher

© Alexander Becher

Jürgen Hestler, Carolin Hestler und Roxanne Adler (von links nach rechts) stehen in der Scheune des Heimatmuseums Weissacher Tal. Im Vordergrund hängt der Getreidesack mit dem Hakenkreuz (ein Ausstellungsstück), der den Anstoß zu dem Projekt „Unterweissach im Gleichschritt“ gab. Fotos: A. Becher

Von Melanie Maier

WEISSACH IM TAL. Dass ausgerechnet ein Hakenkreuz den Anstoß zu „Unterweissach im Gleichschritt“ gegeben hat, ist gewissermaßen Ironie des Schicksals. Grundschüler entdeckten das „verbotene Zeichen“ bei einem Rundgang durch das Bauern- und Heimatmuseum Weissacher Tal auf einem alten Getreidesack. Das brachte Carolin Hestler, die die Schüler durch das Museum führte, zum Nachdenken: „Welche Ansatzpunkte gibt es hier, um über den Nationalsozialismus in Weissach im Tal zu sprechen?“, fragte sich die Dozentin der Abteilung Geschichte der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg. Sie stellte schnell fest: „Es gibt nichts dazu“, sagt Hestler, die – wie es der Zufall will – auch noch die Schwiegertochter von Jürgen Hestler, dem Vorsitzenden des Heimatvereins Weissacher Tal, ist.

Zusammen mit ihren Studierenden machte sich die 36-Jährige auf die Suche nach Informationen über diese Zeit im Weissacher Tal. In monatelanger Arbeit durchsuchten sie Archive und sprachen mit Zeitzeugen. Das Projekt verselbstständigte sich, wurde größer und größer. So groß, dass „Unterweissach im Gleichschritt“ am Ende drei Teile umfassen wird: zunächst die App „Diktatour“, im September sodann eine Führung mit „Dorfgeschichten unterm Hakenkreuz“ durch Unterweissach und nicht zuletzt ein Projekthandbuch für die Schüler und Lehrer weiterführender Schulen sowie „alle, die auch aus der Geschichte lernen wollen“. Finanzielle Unterstützung kommt von der Aktion „Partnerschaft für Demokratie“ des Bundesfamilienministeriums und des Kreisjugendringes sowie von der „Eberhard-Gläser-Stiftung“.

Der Rundgang führt unter anderem zum Rathaus, zur Ortsbücherei, zur Kirche und zum Heimatmuseum.

Seit heute kann man sich die App „Diktatour“ von der Plattform Actionbound herunterladen und sich auf eine digitale Zeitreise und Schnitzeljagd durch Unterweissach begeben. Der Rundgang dauert ungefähr eineinhalb Stunden und führt unter anderem zum Rathaus, zur Ortsbücherei und zur Kirche. An jeder der insgesamt neun Stationen erfahren die Nutzer von Ereignissen, die sich in den 1930er- oder 1940er-Jahren zugetragen haben. Zwischendurch hören sie Experten, die weitere Informationen liefern. Dazu müssen sie Rätsel lösen, Fragen beantworten, Aufgaben erfüllen. Das soll zum einen einfach Spaß machen, zum anderen zum Nachdenken anregen. Die App verfolge zwei Ziele, sagt Hestler, ein fachliches und ein didaktisches: „Die Teilnehmenden sollen inhaltlich etwas lernen, aber auch zum kritischen Denken angeregt werden: Sie sollen eine eigene Meinung entwickeln, die Informationen, die sie bekommen, hinterfragen.“

Auch das Bauern- und Heimatmuseum in der Brüdener Straße ist eine Station. Dort erfahren die Besucher von Fri(e)da Heller, die das inzwischen mehr als 230 Jahre alte Haus bis 1983 bewohnte. Ihr Mann Paul fiel im Krieg. „Fri(e)da hat ihn bis 1975 über das Rote Kreuz suchen lassen“, erzählt Jürgen Hestler. „Sie hat nie wieder geheiratet.“

Außerdem dürfen sich die Schüler alte Soldatenhelme und Zinnsoldaten aus der Nähe anschauen, mit denen die Kinder früher gespielt haben. Denn auch dabei kann man etwas lernen, erklärt Carolin Hestler: „Wie unterscheiden sich die Spielsachen von heute von denen, die es früher gab?“ Anhand der Zinnsoldaten etwa sehe man, was die Militarisierung der Gesellschaft im Alltag bedeute.

Von Unterrichtsmaterial wie der App wäre er begeistert gewesen, sagt Jürgen Hestler. Der 70-Jährige war früher selbst einmal Geschichtslehrer. Die Vermittlung von Wissen funktioniere am besten über emotionale Geschichten, sagt Hestler. „So bekommt man einen ganz anderen Zugang zum Thema.“ Das sieht seine Schwiegertochter ähnlich. In den meisten Fächern werde das Thema Nationalsozialismus sehr früh behandelt, sagt sie. „Ich habe das Gefühl, dass die Schüler in der neunten Klasse oft gar keine Lust mehr haben, sich auch noch im Geschichtsunterricht damit auseinanderzusetzen.“ Mithilfe der App können die Schüler erfahren, wie es wirklich war, in einer Diktatur zu leben – anhand des Mediums, das sie ohnehin täglich nutzen. Bei dem Projekt gehe es vor allem darum, Geschichtswissen jenseits von Daten und Zahlen zu vermitteln, so Carolin Hestler.

Dazu tragen die Geschichten bei, die sie und ihre Studenten aus den Archiven ausgegraben haben. Zum Beispiel von dem Lehrer, der seinen Namen ändern ließ, weil er sich „zu jüdisch“ anhörte. Oder von dem Parteivorsitzenden, der sich fragte, ob er nach wie vor jeden Sonntag in die Kirche gehen kann. „Was zählt mehr: die Ideologie oder die eigene Verortung in der Gemeinschaft?“ – diese Frage habe sich wie ein roter Faden durch zahlreiche Biografien Weissacher Bürger gezogen, berichtet die Hochschuldozentin. Auf dem Rundgang, meint sie, „können auch alteingesessene Unterweissacher noch etwas lernen“.

Dass die Erkenntnisse von Hestler und ihren Studierenden nun in einer App gebündelt sind, ist Corona zu verdanken. „Eigentlich war die Idee, das alles in den Unterricht zu integrieren“, sagt Hestler. Doch mit der Pandemie kam auf einmal die Notwendigkeit auf, das Lehren und Lernen ins Internet zu verlagern. Mit der Actionbound-App kann der Geschichtsunterricht nun auch draußen stattfinden: in kleinen Gruppen, im eigenen Dorf. Das hat noch einen weiteren Vorteil, weiß Hestler: „Wenn ich immer wieder an dem Haus vorbeigehe, über das ich etwas gelernt habe, verknüpfe ich die Geschichte automatisch mit dem Ort.“ Woher die einzelnen Informationen stammen, werde zudem stets offengelegt. So können die Lehrer die Themen später noch einmal aufgreifen und im Unterricht vertiefen.

Die Herausforderung bestand darin, die vielen Informationen zu einer sinnvollen Geschichte zu verarbeiten.

Erstellt wurde die App von Hestlers Lehramtsstudenten, darunter Roxanne Adler, 26, aus Ditzingen. Sie studiert im vierten Mastersemester. Die Plattform Actionbound habe sie bereits vor dem Projekt gekannt, sagt Adler. „Ich wusste schon, wie man so etwas baut.“ Deshalb habe die größte Herausforderung bei der Arbeit an der App nicht in der Technik bestanden, sondern darin, die Masse der gesammelten Informationen zu einer sinnvollen und interessanten Geschichte zu verarbeiten, die nicht mehr als eine Schuldoppelstunde in Anspruch nimmt.

Die Gruppe hofft nun, dass die App oft genutzt wird – und dass sie Nachahmer findet. Ähnliche Rundgänge speziell zur NS-Zeit wären theoretisch in fast jeder Gemeinde möglich. „Unterweissach im Gleichschritt – Diktatour“ könnte bei der Erstellung ein Vorbild sein.

Die digitale Schnitzeljagd „Unterweissach im Gleichschritt – Diktatour“ ist auf der Plattform Actionbound verfügbar unter https://actionbound.com/bound/ UnterweissachGleichschrittTour. Nach dem Herunterladen ist die App offline nutzbar.

Die App „Diktatour“ ist eine digitale Zeitreise und Schnitzeljagd durch Unterweissach. Die Nutzer begeben sich dabei gemeinsam mit den Schülern Emma und Jan (Mitte) auf einen Rundgang.

© Alexander Becher

Die App „Diktatour“ ist eine digitale Zeitreise und Schnitzeljagd durch Unterweissach. Die Nutzer begeben sich dabei gemeinsam mit den Schülern Emma und Jan (Mitte) auf einen Rundgang.

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Erstellt:
15. Mai 2021, 11:30 Uhr

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