Unser Heimatplanet in der Krise

Aussichtloser Kampf der Gletscher gegen den Klimawandel

Gletscher wehren sich gegen die Klimaerhitzung. Sie kühlen die Luft, die ihre Oberfläche berührt. Aber wie lange noch? Forscher haben beunruhigende Nachrichten.

Nichts ist für die Ewigkeit – auch nicht das ewige Eis.

© mago/Dieter Mendzigall

Nichts ist für die Ewigkeit – auch nicht das ewige Eis.

Von Markus Brauer

Thomas Shaw erinnert sich noch gut an diesen besonderen Sommertag im August 2022. Der Postdoktorand in der Gruppe von Francesca Pellicciotti am Institute of Science and Technology Austria (ISTA) war in den Schweizer Alpen, mit blauem Himmel und angenehmen 17 Grad Celsius. Nur: Er stand auf dem Glacier de Corbassière auf 2600 Metern Seehöhe und sammelte Daten über den Zustand des Gletschers.

Es handelt sich um einen Talgletscher auf der Nordseite des Grand Combin in den südwestlichen Walliser Alpen in der Schweiz. Der Glacier de Corbassière ist 9,6 Kilometer lang und bedeckt zusammen mit seinen Tributärgletschern eine Fläche von etwa 15 Quadratkilometern.

Lässt der Klimawandel Gletscher kalt?

Während die Temperaturen weltweit steigen, scheinen die Temperaturen nahe der Oberfläche der Gletscher hinterherzuhinken. Die massiven Gletscher im Himalaya blasen sogar kalte Winde ihre Hänge hinunter, um sich selbst zu kühlen und ihre Ökosysteme zu erhalten. Dieser seltsame Effekt ist jedoch keineswegs ein Indikator für langfristige Stabilität.

Die von Thomas Shaw geleitete neue Studie der Pellicciotti-Gruppe zeigt, dass diese Reaktion der Gletscher wahrscheinlich in den 2030er Jahren ihren Höhepunkt erreichen wird. „Je heißer das Klima wird, desto mehr kühlen Gletscher ihr eigenes Mikroklima und die lokale Umgebung im Tal ab“, sagt Shaw.

„Dieser Effekt wird jedoch nicht lange anhalten. Vor der Mitte des Jahrhunderts wird es zu einer Trendwende kommen.“ Ab dann wird sich das Abschmelzen und die Fragmentierung der Gletscher verstärken und die Temperaturen nahe deren Oberfläche werden schneller ansteigen. All das wird ihren Rückgang beschleunigen.

Große Gletscher, kalte Winde

Es ist schwierig, lokale Klimaauswirkungen in den entlegensten Gebiete der Welt zu verstehen und ihre Entwicklung auf globaler Ebene zu kartieren. Oft fehlen schlichtweg die Daten. Das limitiert die Genauigkeit der Rechenmodelle, mit denen Wissenschafter die Klimaentwicklung simulieren und Zukunftsprognosen erstellen.

Als Francesca Pellicciotti und ihre Kolleg zum ersten Mal die Daten sahen, die an einer 5000 Meter hohen Klimastation an den Hängen des Mount Everest gesammelt worden waren, trauten sie ihren Augen kaum. „Nach gründlicher Untersuchung verstanden wir, dass die Gletscher auf die Erwärmung der Luft im Sommer mit einem stärkeren Temperaturaustausch an der Oberfläche reagierten“, erklärt Pellicciotti.

Aufgrund der schieren Größe der Gletscher im Himalaya führt dies zu einer Abkühlung großer Luftmassen. „Diese großen, dichten Kaltluftmassen strömen dann unter dem Einfluss der Schwerkraft die Hänge hinunter, ein Phänomen, das als ‚katabatische Winde‘ bezeichnet wird.“ Bei anderen großen Gletschern weltweit zeigt sich ein ähnliches Verhalten.

Wissenschafter gehen neue Wege

Nun wollte Shaw ein globales Modell jenseits der Einschränkungen der Datenknappheit entwickeln. Er entwickelte eine Methode, um abzuschätzen, wie lange Gletscher weltweit weiterhin den Klimaschock absorbieren würden.

„Wir haben Daten aus früheren und aktuellen Projekten unserer Forschungsgruppe zusammengetragen, sie mit allen veröffentlichten Daten gepoolt und andere Forscher:innen gebeten, uns ihre unveröffentlichten Daten zur Verfügung zu stellen“, erläutert Shaw. „Mit diesem neuen Datensatz haben wir die physikalischen Prozesse neu bewertet, um Trends und Muster zu finden. Damit haben wir auch ein statistisches Rahmenwerk entwickelt, das uns einen Einblick in die Entwicklung der weltweiten Gletscherabkühlung gibt.“

Peak Cooling – maximale Abkühlung

Das Forscherteam um Thomas Shaw stellte ein Verzeichnis mit stündlichen Daten von 350 Wetterstationen auf 62 Gletschern weltweit zusammen, die insgesamt 169 sommerlange Messkampagnen repräsentieren. Sie untersuchten insbesondere das Verhältnis der Temperatur nahe der Gletscheroberfläche zur Umgebungstemperatur – also ohne Gletscher – direkt über jeder Station und analysierten es über Raum und Zeit.

„Wir bezeichnen den Temperaturunterschied als ‚Entkopplung‘, da er scheinbar im Widerspruch zur Erwärmung der Umgebungstemperaturen steht“, berichtet haw. Sie zeigten, dass sich die Temperatur nahe der Oberfläche von Gebirgsgletschern weltweit im Durchschnitt um 0,83 Grad Celsius erwärmte, wenn die Umgebungstemperatur um einen Grad anstieg.

Kühleffekt erreicht bis 2040er Jahren seinen Höhepunkt

Sie untersuchten auch die Gletschereigenschaften, die den Entkopplungseffekt am ehesten begrenzen, wie etwa das Vorhandensein einer durchgehenden Geröllschicht am unteren Teil eines Gletschers. Schließlich verfeinerten sie ihr Modell mit diesen Informationen.

Indem sie Zukunftsprognosen modellierten, zeigten sie, dass dieser Kühleffekt zwischen den 2020er und 2040er Jahren seinen Höhepunkt erreichen wird, bevor der stetige Massenverlust der Gletscher zu ihrem großflächigen Rückzug führt und den Kühltrend umkehrt. „Bis dahin werden sich die erheblich geschwächten Gletscher wieder an die sich stetig erwärmende Atmosphäre ‚ankoppeln‘ und damit ihr Schicksal besiegeln“, erklärt Shaw.

Verlust akzeptieren, Klimamaßnahmen koordinieren

Während die Daten eine düstere Zukunft für die Gletscher dieser Welt zeichnen, gibt es pragmatische Konsequenzen bei weiterer Klimaerwärmung. „In dem Bewusstsein, dass die Selbstkühlung der Gletscher noch etwas länger anhalten wird, könnten wir etwas mehr Zeit gewinnen, um unsere Wassermanagementpläne für die nächsten Jahrzehnte zu optimieren“, betont Shaw.

Die Forscher sind sich voll und ganz bewusst, dass sie die Gebirgsgletscher weder retten noch wiederherstellen können. „Wir müssen den unvermeidbaren Eisverlust akzeptieren und unsere gesamten Anstrengungen darauf konzentrieren, die weitere Erwärmung des Klimas zu begrenzen, anstatt uns auf ineffektive Geoengineering-Strategien wie Cloud Seeding und die Abdeckung von Gletschern zu verlassen“, mahnt Thomas Shaw.

Kein teures Pflaster auf Schusswunde kleben

Das sei so, als würde man ein teures Pflaster auf eine Schusswunde kleben. Die kommenden Jahrzehnte seien eine Zeit der Reflexion, des effektiven Wassermanagements und des Handelns, um das öffentliche Bewusstsein für den vom Menschen verursachten Klimawandel zu verändern.

Zudem betonen die Forscher die Notwendigkeit, durch koordinierte und weltweite Klimapolitik Emissionen drastisch zu reduzieren, um menschliches Leben vor den unvorhersehbaren Auswirkungen der globalen Erwärmung zu schützen. „Jedes Zehntelgrad zählt“, sagt Shaw und wiederholt damit, was Wissenschafter seit Jahrzehnten betonen.

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Erstellt:
13. Oktober 2025, 14:26 Uhr

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