Backnanger Michaelskirche wird 900 Jahre alt

Die Kirche selbst steht eigentlich gar nicht mehr. Das vor 900 Jahren dem heiligen Michael geweihte Gotteshaus wurde ein Opfer der Zeitläufte. Erhalten geblieben ist nur ihr gotischer Chor – und obwohl dieser arg gelitten hat, ist er das Juwel unter Backnangs Bauschätzen.

Der noch erhaltene Teil der Michaelskirche gilt laut Bernhard Trefz als einer der ersten frühgotischen Chöre in Deutschland. Foto: Alexander Becher

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Der noch erhaltene Teil der Michaelskirche gilt laut Bernhard Trefz als einer der ersten frühgotischen Chöre in Deutschland. Foto: Alexander Becher

Von Armin Fechter

BACKNANG. Im Schicksal der einstigen Michaelskirche spiegelt sich nicht nur die wechselvolle Geschichte der Stadt, sondern auch der Pragmatismus ihrer Bewohner, wie Stadtarchivar Bernhard Trefz deutlich macht. Denn je nach Lage der Dinge wurde das Gebäude zwar zunächst über Jahrhunderte bestimmungsgemäß als Kirche genutzt, später diente der Raum dann aber ziemlich profan dazu, Getreidevorräte zu lagern. Und als Platz für ein Schulhaus benötigt wurde, hat man kurzerhand einen Anbau errichtet – und ist dabei nicht zimperlich mit der historischen Bausubstanz umgegangen.

Anfänge reichen in das 12. Jahrhundert zurück

Die Anfänge der Michaelskirche sind eng mit dem Augustiner-Chorherrenstift verwoben, das die Markgrafen von Baden am Ort ihrer Grablege errichteten. Das war zu Beginn des 12. Jahrhunderts. Hermann von Baden und seine Frau Judith wandelten die vormalige Backnanger Pfarrkirche in ein Stift um – ein Akt, den Papst Paschalis II. anno 1116 auch formell bestätigte. Aber die Augustiner, die dann dort Einzug hielten und die aus einem Stift in Marbach im Elsass kamen, beanspruchten die (Stifts-)Kirche St. Pankratius für sich allein, die Backnanger Bevölkerung sollte draußen bleiben. Also ließ der Markgraf für die Leute aus dem Ort eine eigene Kirche errichten – die St.-Michaels-Kirche. Damit war zugleich die für mehrere Jahrhunderte geltende Trennung vollzogen: Stift und Stadt existierten nebeneinander jeweils in ihrer eigenen Welt.

Gut 100 Jahre nach dem Kirchenbau ereilte Backnang ein schlimmes Schicksal: Der Ort wurde in die Auseinandersetzungen zwischen Kaiser Friedrich II. und seinem Sohn Heinrich hineingezogen. Die Markgrafen hatten sich nämlich aufseiten des Stauferkaisers positioniert. Deshalb ließ der aufrührerische Heinrich einen Getreuen – Heinrich von Neuffen, dem auch Winnenden-Bürg gehörte – das gerade erst zur Stadt aufgestiegene Backnang 1235 überfallen und verwüsten. Auch die Michaelskirche wurde schwer beschädigt.

Das gotische Chorgewölbebringt Kenner bis heute zum Schwärmen

Bei ihrem Wiederaufbau entstand das großartige gotische Chorgewölbe mit seinen neun Strahlen und den originellen Kapitellen, das Kenner bis heute zum Schwärmen bringt. Schon in der Oberamtsbeschreibung von 1871 wurde der Chor als „eines der edelsten Bauwerke unseres Landes“ bezeichnet, das aber aufgrund späterer starker Eingriffe „leider fast bis zur Unkenntlichkeit entstellt“ sei: Der Raum sei „zu Holzställen eingerichtet und ganz dick übertüncht, so daß die schönen, aus tief unterschafftem Laub-, Thier- und Maskenwerk reich zusammengeschlungenen Kapitelle seiner schlanken Säulenbündel zu rohen Klumpen geworden sind“.

Gleichwohl gilt dieser noch erhaltene Teil der Michaelskirche, wie Trefz erklärt, als einer der ersten frühgotischen Chöre in Deutschland. Wegen gewisser Ähnlichkeiten in der Ausgestaltung wird angenommen, dass der Backnanger Baumeister zuvor in Frankreich gewesen war und die dort gewonnenen Eindrücke in seine Arbeit einfließen ließ. Dass aber die Chorherren im Stift ob der Schönheit der wiederaufgebauten Michaelskirche neidisch wurden und nun auch selbst eine Erneuerung ihrer Stiftskirche anstrebten, hält der Stadtarchivar für eine „nette Anekdote“, Belege dafür gebe es keine. Wie auch sonst die Quellenlage für diese Zeit, wie Trefz betont, äußerst dürftig sei, es gebe nur einzelne verstreute Hinweise, aber keine Bauakten oder dergleichen.

1537, verlor deshalb die Michaelskirche als Stadtkirche ihre Bedeutung

Mit der Reformation in Württemberg im 16. Jahrhundert ergab sich eine neue Sachlage: Das Stift wurde nämlich aufgelöst und die Backnanger konnten von jetzt an die bis dahin für sie unerreichbare Pankratiuskirche nutzen. Nach dem Umzug, ab 1537, verlor deshalb die Michaelskirche als Stadtkirche ihre Bedeutung – es begann die Zeit, in der die Nutzungen wechselten und in der sie unter anderem als Vorratslager diente. Das Interesse verlagerte sich nunmehr auf den Turm, der unter der Leitung von Landesbaumeister Heinrich Schickhardt 1614 sogar noch aufgestockt wurde. Oben verrichtete ein Hochwächter seinen Dienst. Er sollte die Stadtbevölkerung vor möglichen Gefahren warnen.

Doch 1693 kam der nächste brutale Einschnitt: Im Zuge des Pfälzischen Erbfolgekriegs, den der französische König Ludwig XIV. provoziert hatte, drangen französische Soldaten mehrmals nach Süddeutschland ein und richteten vielerorts Verwüstungen an – so auch in Backnang, wo die Stadt schließlich in Flammen aufging. Das Schiff der Michaelskirche, das wohl noch die romanische Grundstruktur von 1122 aufwies, wurde zerstört, ebenso der Turmaufsatz, während der Chor weitgehend erhalten blieb. Wiederaufgebaut wurde 1699 aber nur der Turm, die Trümmer des Gebäudes blieben liegen. Das sollte sich erst 1807/08 ändern, als die Ruine vollends abgebrochen und der Schutt beseitigt wurde. Angeblich hatte sich König Friedrich – der erste württembergische König – bei einem Besuch in der Stadt über den hässlichen Geröllhaufen beschwert. Was nach Trefz’ Worten freilich nur eine weitere „nette Anekdote“ sei. Damit wäre nun die Geschichte der Michaelskirche eigentlich beendet, wenn nicht der gotische Chor übrig wäre.

Von den Überresten zur städtischen Galerie

Nachnutzung Nachdem die Michaelskirche 1693 zerstört und der verbliebene Schutt zu Beginn des 19. Jahrhunderts beseitigt worden war, kam den Stadtoberen in den Sinn, wozu sie den freigeräumten Platz beim Stadtturm nutzen konnten: Über den Fundamenten des Kirchenschiffs errichteten sie 1816/17 einen Anbau und brachten darin die Schule unter – das sogenannte Turmschulhaus.

Im erhalten gebliebenen gotischen Chor wurde das Treppenhaus eingebaut und eine Wohnung für den Lehrer eingerichtet. Die Verantwortlichen zeigten aber bei diesem Ausbau nicht das geringste Gespür dafür, mit welchen Schätzen sie es zu tun hatten. „Ihnen war es egal“, fasst Stadtarchivar Bernhard Trefz knapp zusammen. Zahlreiche Elemente des Chors wurden beschädigt, unter anderem wurden Dienstbündel abgesägt und störende Teile der Kapitelle einfach abgeschlagen.

Galerie der Stadt Ab dem Ende des 19. Jahrhunderts entwickelte sich jedoch zunehmend ein Bewusstsein für die Bedeutung des Chors. Mehrere bauhistorische Untersuchungen in den 1990er-Jahren untermauerten die Ausnahmestellung des Bauwerks. Mit dem Auszug der Schickhardt-Realschule 1992 endete die schulische Nutzung und 1993 wurden die Weichen gestellt, um die Galerie der Stadt Backnang in dem Bau unterzubringen. „Eine hervorragende Lösung“, wie Trefz meint, und auch Galerieleiter Martin Schick ist von den Räumen nach wie vor höchst angetan.

Sanierung Bis zum Abschluss der Sanierung 2004 gab es allerdings teils heftige Auseinandersetzungen um die Art und Weise von Renovierung, Restaurierung und Rekonstruktion. Der Förderverein Gotischer Chor war mit dem Wunsch nach einer möglichst umfassenden Wiederherstellung des Originalzustands angetreten, demgegenüber vertrat das Denkmalamt die Position, dass die Geschichte eines Bauwerks ablesbar sein soll – und das betrifft auch eingetretene Schäden. So galt es immer wieder, Kompromisse zu finden, etwa in der letztlich nicht eindeutig zu klärenden Frage, in welcher Höhe sich einstmals der Boden des Chors befand.

Fluchttreppe Weitere Kontroversen rief die außen an den Stadtturm angebaute Fluchttreppe hervor, die viele Kritiker als gar zu wuchtigen neuzeitlichen Fremdkörper in historischer Umgebung empfanden. Derweil setzte der von dem Backnanger Maler Georg Staab neu gefasste Schlussstein mit dem heiligen Michael einen farbenfrohen Schlusspunkt im Inneren.

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Erstellt:
10. September 2022, 11:30 Uhr

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