Backnanger Start-up Formary nimmt Form an

Die Geschwister Lisa-Marie und Moritz Bittner sind nach einem familiären Schicksalsschlag ins elterliche Unternehmen eingestiegen. Jetzt wollen sie mit ihrem eigenen Projekt, der digitalen Plattform Formary, den Markt für Tiefziehteile aus Kunststoff umkrempeln.

Lisa-Marie und Moritz Bittner kehrten zunächst in den elterlichen Betrieb zurück und gründeten im September 2021 mit Formary ein eigenes Start-up. Mutter Heidrun Bittner ist weiterhin im Familienunternehmen, der Bittner GmbH, tätig.  Foto: Alexander Becher

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Lisa-Marie und Moritz Bittner kehrten zunächst in den elterlichen Betrieb zurück und gründeten im September 2021 mit Formary ein eigenes Start-up. Mutter Heidrun Bittner ist weiterhin im Familienunternehmen, der Bittner GmbH, tätig. Foto: Alexander Becher

Von Kai Wieland

Backnang. Auf den ersten Blick handelt es sich beim Bürogebäude der Bittner GmbH in der Donaustraße in Waldrems um ein ganz normales Wohnhaus. Beim Überschreiten der Türschwelle merkt man aber schnell: Hier summt es wie in einem Bienenstock. Jeder verfügbare Quadratmeter ist von Büroarbeitsplätzen vereinnahmt, Angestellte rattern technische Fachbegriffe ins Mikro ihres Headsets und zwischendurch sorgt auch noch der Bürohund für etwas Unruhe zwischen den Schreibtischen. Im September 2021 ist hier das Start-up Formary eingezogen und so sieht es nun einmal aus, wenn das schwäbische Tüftlertum der Eltern auf den Innovationsgeist des Nachwuchses trifft.

Eigentlich hatten die Geschwister Lisa-Marie (31) und Moritz Bittner (34) aber ganz andere Karrierepläne. Beide studierten International Business, die eine in Reutlingen, der andere in Nürnberg. Während Lisa-Marie Bittner gerade einen Masterplatz in Aussicht hatte, stand der ältere Bruder bereits vor dem Einstieg bei der Unicredit in München, um sich dort mit der großen Welt des Investmentbankings zu befassen. „Unsere Kinder sollten zuerst andere Luft schnuppern und dann irgendwann entscheiden, ob sie zurück ins Unternehmen kommen wollen“, sagt die Mutter Heidrun Bittner (60), die selbst noch im Familienbetrieb tätig ist und auch nach wie vor im Haus wohnt.

Ein familiärer Rückschlag führte die Geschwister zurück in die Heimat

Das Leben schrieb für die Geschwister jedoch ein anderes Drehbuch, als ihr Vater Roland Bittner, Gründer des seit 1985 existierenden Familienunternehmens, in welchem unter anderem Tiefzieh- und Spritzgussteile produziert werden, im Jahr 2016 an einem Hirntumor erkrankte. Mehr aus Loyalität als aus echter Begeisterung für Tiefziehteile verwarfen die Geschwister ihre Pläne, kehrten nach Waldrems zurück und stiegen im Jahr 2017 in den Familienbetrieb ein. Die Krankheit des Vaters schritt schnell voran, was neben der emotionalen Ausnahmesituation auch große betriebliche Schwierigkeiten mit sich brachte. „Mein Vater konnte schon nach wenigen Wochen nicht mehr sprechen und es gab daher auch quasi keine Übergabe“, sagt Moritz Bittner. „In einem Unternehmen, das sehr zentralistisch auf unsere Eltern zugeschnitten war und über keine Wissensmanagementsysteme verfügte, war das ein echtes Problem“, ergänzt Lisa-Marie Bittner. Vor allem ihr Bruder habe sich damals sehr in die technische Seite des Unternehmens einarbeiten müssen, während sie selbst sich um Themen wie Versicherungen und Finanzen gekümmert habe. Das Know-how dafür kam teilweise aus dem Studium, vor allem aber „on the job“, erklärt Moritz Bittner, dessen Ausführungen genau wie die seiner Schwester charmant zwischen Schwäbisch und BWL-Anglizismen changieren.

In der Anfangsphase sei es vor allem darum gegangen, das Familienunternehmen am Laufen zu halten und sämtliche Verpflichtungen sowohl gegenüber Kunden und Lieferanten als auch gegenüber den teils langjährigen Mitarbeitern zu erfüllen, doch bald schon reifte eine Idee in den Köpfen der Geschwister.

Ein eigenes Geschäftsmodell weckt die Begeisterung

„Wir haben schnell gemerkt, dass wir nicht die schwäbischen Tüftler sind, die an der Maschine stehen und die Produkte zur Perfektion fertigen. Uns ging es eher darum, das Geschäftsmodell umzubauen, denn dort liegen mit unseren BWL-Schwerpunkten eher unsere Stärken“, erzählt Lisa-Marie Bittner. Die Bittner GmbH habe viele historisch gewachsene Standbeine gehabt, von Spritzguss über Keramik bis hin zu Blisterverpackungen, erklärt ihr Bruder. Das Entwicklungspotenzial in der Produktion am Standort sei allerdings begrenzt, weswegen Wachstum vor allem über externe Lieferanten möglich sei. Das gelte insbesondere für den Thermoforming-Bereich, da dieser etwas mehr Nische sei als etwa 3-D-Druck oder Spritzguss.

In diesem Feld sahen die Geschwister das Unternehmen gut aufgestellt. Das Netzwerk aus Lieferanten und Kunden sei vielversprechend, aber doch ausbaufähig gewesen. Vor allem aber stellten sie fest, dass der Beschaffungsmarkt für Tiefziehteile aus Kunststoff sehr unübersichtlich ist. Hier setzt die Geschäftsidee der Geschwister an.

„Es gibt einen fragmentierten Lieferantenmarkt, der für Kunden schwer zu überblicken ist, da es für jede Kombination aus Stückzahl, Material und Größe spezialisierte Hersteller gibt. Gleichzeitig gibt es einen ebenso fragmentierten Kundenmarkt, auf dem teils spezielle Lösungen gesucht werden“, führt Moritz Bittner aus. Diese Märkte zu kennen, ein kompetenter Ansprechpartner für beide Seiten zu sein und den Prozess somit für alle Beteiligten zu vereinfachen ist die Idee von Formary.

„Bei diesen Abläufen ist man in Deutschland sehr hinterher“, fährt Moritz Bittner fort. Es sei nach wie vor gängig, für ein Tiefziehteil mehrere Lieferanten anzufragen, mehrmals zu telefonieren und zwei Wochen auf Angebote zu warten, die dann kaum vergleichbar seien. „Wir konnten teilweise nicht fassen, wie in der Branche Aufträge abgewickelt wurden. Vieles läuft sogar noch per Fax“, sagt Lisa-Marie Bittner. „Wir waren uns sicher: Das geht auch besser.“ Das Backnanger Start-up Formary war geboren.

Das Start-up nimmt allmählich Gestalt an

Moritz Bittner ist überzeugt, dass Formary viele Probleme der Branche lösen und auch entsprechend erfolgreich wirtschaften wird: „Bei uns können Kunden ihre Daten hochladen, ein paar Angaben machen und bekommen dann sofort den Preis, einen Lieferzeitpunkt und werden dem idealen Lieferanten für diesen Auftrag zugeordnet.“ Die Marge, welche Formary dafür erhalte, würde für den wesentlich einfacheren Bestellprozess gerne in Kauf genommen. Aktuell ist das Unternehmen allerdings noch mit einem Testprodukt auf dem Markt. Der Bestellprozess über Formary laufe zwar bereits deutlich gestrafft, aber noch immer manuell, verraten die Geschwister. Zukünftig soll mithilfe von Machine Learning aber ein automatisierter Prozess möglich sein – das wäre für die Branche revolutionär, betont Lisa-Marie Bittner.

Aber was halten eigentlich die Lieferanten von dem neuen Akteur auf dem Markt? „Sie sind teils skeptisch, was die Machbarkeit unseres Vorhabens betrifft, aber hilfsbereit“, sagt Moritz Bittner. Auch für sie seien schließlich effizientere Bestellprozesse von großem Vorteil. Was die Entwicklung des Algorithmus betrifft, sind die Geschwister jedenfalls zuversichtlich, denn schon jetzt kalkuliere dieser Preise, die sehr nah an denen der Lieferanten lägen.

Heidrun Bittner sieht die Ambitionen ihrer Kinder sichtlich mit Stolz. „Ich habe immer volles Vertrauen gehabt. Ich kenne meine Kinder und weiß, was sie können. Außerdem habe ich schnell bemerkt, wie sehr sie für ihr Projekt brennen, genau wie wir damals selbst für die Bittner GmbH.“

Dieses Vertrauen war ein Grundstein dafür, dass Formary überhaupt entstehen konnte. „Wir hatten Glück mit unserer Mutter“, sagt Lisa-Marie Bittner. „Nicht jeder, der 35 Jahre etwas aufgebaut hat, lässt es zu, dass jemand in das Unternehmen kommt und etwas Neues probiert. Es ist ja oft das Problem der zweiten Generation, dass die Gründer nicht loslassen können.“

Das neue Unternehmen wächst und braucht Platz

Mittlerweile beschäftigt Formary 25 Angestellte, die überwiegend für die Abwicklung des Projektgeschäfts zuständig sind. Im kommenden halben Jahr soll die Zahl auf 30 steigen und so geht im einstigen Wohnhaus in der Donaustraße dann doch allmählich der Platz aus. Daher wird nun ein Anbau fällig, natürlich ebenfalls vor Ort in Waldrems. Es sei schließlich nicht das Ziel, eine Trennung zwischen Formary und Bittner GmbH zu schaffen. Man sei ein Team, sagen die Geschwister. „Wir bleiben Backnanger“, versichern sie und lachen.

Tiefziehteile aus Kunststoff

Tiefziehteile Beim Tiefziehverfahren werden unterschiedlichste Materialien wie Blech, Metall oder auch Kunststoffe in Hohlkörper mit einseitiger Öffnung umgeformt. Solche Teile finden in zahlreichen Branchen Anwendung, vom Pharmabereich über Automotive bis hin zum Maschinenbau.

Thermoforming Thermoplastische Kunststoffe werden bei diesem Verfahren erwärmt und mithilfe von Unterdruck und einem Thermoformwerkzeug in die gewünschte Form gebracht. Es handelt sich dabei um eine Art des Tiefziehens.

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Erstellt:
16. Februar 2023, 06:00 Uhr

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