Tote in Berg-Karabach bei schwersten Kämpfen seit Jahren

dpa Eriwan/Baku. Blutige Kämpfe im Südkaukasus kosten mehr als Hundert Menschen das Leben. Aserbaidschan hofft vor allem auf Hilfe aus dem Nachbarland Türkei. Diese enge Verbindung stört aber besonders Russland. Nun schaltet sich auch Bundeskanzlerin Merkel ein.

Eine ältere Frau aus Armenien muss in der Konfliktregion Berg-Karabach in einem Bombenbunker ausharren. Foto: Karo Sahakyan/ArmGov/PAN Photo/AP/dpa

Eine ältere Frau aus Armenien muss in der Konfliktregion Berg-Karabach in einem Bombenbunker ausharren. Foto: Karo Sahakyan/ArmGov/PAN Photo/AP/dpa

Bei den schwersten Kämpfen seit Jahrzehnten sind in der Unruheregion Berg-Karabach alleine auf armenischer Seite deutlich mehr als 100 Menschen getötet worden. Die Gesamtzahl der Toten seit Sonntag stieg auf 114 in Berg-Karabach.

Darunter waren Dutzende Soldaten und viele Zivilisten, wie die armenischen Behörden mitteilten. Genaue Opferzahlen aus Aserbaidschan waren zunächst nicht bekannt. Es gebe aber zehn tote Zivilisten, hieß es aus der Hauptstadt Baku. Die blutigen Gefechte lösten international große Sorge aus. Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel rief die Konfliktparteien zu einem Ende der Kämpfe auf.

Die Kämpfe im Südkaukasus dauern seit Sonntag an. Aserbaidschan setzte seine militärische Offensive am Dienstagmorgen fort. Die Truppen bewegten sich in Richtung der Stadt Füsuli und zerstörten vier armenische Panzer, wie das Verteidigungsministerium mitteilte. In der Stadt Gadrut starb eine ältere Frau bei einem aserbaidschanischen Drohnenangriff auf den Hof eines Hauses, wie die dortigen Behörden mitteilten. Drei Bewohner wurden verletzt.

Nach Angaben aus Eriwan gab es auch Artilleriefeuer auf armenisches Staatsgebiet und ein Kampfjet des Typs Suchoi-25 wurde abgeschossen. Der Pilot sei dabei getötet worden, hieß es. Armenien behauptete, dass ein türkisches F-16-Kampfflugzeug die Maschine mit Hilfe aus Aserbaidschan abgeschossen hätte. Dafür gab es aber keine Bestätigung, Aserbaidschan und die Türkei wiesen die Vorwürfe vehement zurück. Baku hatte dem Nachbarn zuvor vorgeworfen, auf seinem Hoheitsgebiet Waffen eingesetzt zu haben.

Es handelt sich um die schwersten Gefechte seit Jahren. Zuletzt gab es 2016 ähnlich schwere Gefechte, damals starben rund 120 Menschen. Nun haben beide Länder den Kriegszustand verhängt. Die Streitkräfte der ölreichen Republik Aserbaidschan sind denen des verarmten Landes Armenien um ein Vielfaches überlegen.

Aserbaidschan hatte nach eigenen Angaben bereits am Sonntag sieben Dörfer in Berg-Karabach zurückerobert. Nach Militärberichten nahmen die aserbaidschanischen Truppen in der Bergregion auch strategisch wichtige Anhöhen ein. Kämpfer aus Berg-Karabach versuchten demnach Angaben ohne Erfolg, die Stellungen wieder unter ihre Kontrolle zu bringen.

In dem jahrzehntealten Konflikt kämpfen die beiden Länder um die von Armenien kontrollierte Region Berg-Karabach, die jedoch völkerrechtlich zum islamisch geprägten Aserbaidschan gehört. In einem Krieg nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion mit mehr als 30.000 Toten verlor Aserbaidschan die Kontrolle über das Gebiet. Es wird heute von christlichen Karabach-Armeniern bewohnt. Armenien setzt auf Russland als Schutzmacht, die dort Tausende Soldaten sowie viele Waffen stationiert hat. Das öl- und gasreiche sowie militärisch hochgerüstete Aserbaidschan hat die Türkei als Verbündeten.

Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) will so bald wie möglich wieder Beobachter in Berg-Karabach einsetzen. Sie stünden bereit, sobald es die Lage in dem seit Tagen von Gefechten zwischen Armenien und Aserbajdschan erschütterten Gebiet wieder erlaube, sagte der OSZE-Sondergesandte für die Region, Andrzej Kasprzyk nach einer Mitteilung. Er stehe mit den Konfliktparteien in Kontakt. Bei einem Sondertreffen tauschten sich Diplomaten der 57 OSZE-Mitgliedstaaten über die Lage in dem eskalierten Konflikt im Südkaukasus aus.

Vertreter des OSZE-Vorsitzlands Albanien sowie der OSZE-Minsk-Gruppe - Frankreich, Russland und USA - riefen erneut zum Ende der Gewalt und zur Rückkehr an den Verhandlungstisch auf. Die USA warnten vor einer Verschärfung des Konflikts durch Einmischung Dritter. „Die Vereinigten Staaten glauben, dass die Beteiligung jeglicher außenstehenden Partei an der Eskalation der Gewalt die regionalen Spannungen nur verschärfen würde“, warnte US-Botschafter James Gilmore.

Der aserbaidschanische Präsident Ilham Aliyev warf der internationalen Gemeinschaft vor, „zuviel Geduld“ mit Armenien zu haben. Seit 30 Jahren reagiere Armenien nicht auf Resolutionen der Vereinten Nationen, sich aus dem besetzten Gebiet Aserbaidschans zurückzuziehen, sagte er.

Die Türkei hatte sich bereits mit deutlichen Worten hinter Aserbaidschan gestellt und Armenien die Schuld an der Eskalation gegeben. Die Türkei stehe „mit allen Mitteln und ganzem Herzen“ an Aserbaidschans Seite, hatte Präsident Recep Tayyip Erdogan betont. Erdogans Kommunikationsdirektor Fahrettin Altun schrieb am Dienstag auf Twitter: „Als Türkei werden all unsere Bemühungen und Anstrengungen darauf hinauslaufen, dass das verbrüderte Aserbaidschan seine besetzten Gebiete zurückerobert und seine Rechte auf internationalem Gebiet beschützt werden.“

Russland kritisierte das Verhalten der Türkei. Der Kreml forderte Ankara auf, auf Aserbaidschan einzuwirken und das Land zu einer Waffenruhe und Verhandlungen zu bewegen. Bisherige Unterstützungserklärungen von türkischer Seite für Aserbaidschan hätten nur Öl ins Feuer gegossen, sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow.

Präsident Wladimir Putin betonte nach Kremlangaben bei einem Telefonat mit dem armenischen Ministerpräsidenten Nikol Paschinjan, dass beide Seiten dringend das Feuer stoppen und Maßnahmen zur Deeskalation der Krise ergreifen müssten. Er sei ernsthaft besorgt über die anhaltenden Kämpfe, hieß es.

Bundeskanzlerin Merkel sprach ebenfalls mit Paschinjan und Aliyev. Die Kanzlerin habe deutlich gemacht, dass ein Waffenstillstand und Verhandlungen dringlich seien, teilte Regierungssprecher Steffen Seibert mit. Basis dafür könnte die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) sein.

Diplomaten der 57 OSZE-Mitgliedstaaten wollten sich am Dienstagnachmittag in Wien zu einer Sitzung über die Lage treffen, wie das Außenministerium des OSZE-Vorsitzlands Albanien mitteilte. Der OSZE-Sonderbeauftragte für den Konflikt, der polnische Diplomat Andrzej Kasprzyk, sollte dort über den Stand der Dinge berichten.

UN-Generalsekretär António Guterres sprach ebenfalls mit beiden Seiten und forderte sie zum sofortigen Ende der Kämpfe auf. Auch die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte, Michelle Bachelet, betonte, sie beobachte den Konflikt mit Sorge. „Ich bin sehr beunruhigt über die Todesfälle und Verletzungen, über die berichtet wird, und die Schäden an Eigentum und Infrastruktur.“ Sie rief alle Konfliktbeteiligten auf, das humanitäre Völkerrecht einzuhalten, das den Schutz der Zivilbevölkerung vorschreibt.

Mehrere Mitglieder des UN-Sicherheitsrats beantragten, das Thema noch für Dienstag auf die Tagesordnung zu setzen. Die Initiative dafür soll von Deutschland und Frankreich ausgegangen sein.

© dpa-infocom, dpa:200929-99-748350/11

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Erstellt:
29. September 2020, 04:00 Uhr

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