KI-Neudatierung biblischer Texte
Berühmte Qumran-Schriftrollen sind älter als bisher angenommen
Viele der berühmten Qumran-Schriftrollen vom Toten Meer sind früher entstanden als bisher gedacht, wie eine Neudatierung durch Künstliche Intelligenz enthüllt. Einige der Texte stammen sogar aus der Entstehungszeit des Alten Testaments.

© Imago/GRANGER Historical Picture Archive
In Qumran lebten die Essener, eine jüdische streng religiöse Gruppe, die fast in Vergessenheit geraten war. Bis im Jahr 1947 Schriftrollen gefunden wurden, die sie in den Höhlen der Berge versteckt hatten.
Von Markus Brauer/dpa
Flirrend heiß ist es. Auf den kargen Bergen ist kein einziger Grashalm, geschweige denn Strauch zu sehen. Qumran macht einen trostlosen, lebensfeindlichen Eindruck. Manche der Besucher, die zu der archäologischen Ausgrabungsstätte am Nordwestufer des Toten Meeres kommen, staunen zunächst, wie wenig es an deisem berühmten Ort zu sehen gibt – zumindest auf den ersten Blick.
Für archäologisch wenig interessierte Laien stehen hier in der judäischen Wüste schlicht ein paar Steinmauern. Die aber sind für Archäologen und Historiker, Theologen und Judaisten von allergrößtem Interesse. Denn in Qumran lebten einst die Essener, eine streng religiöse Gruppe von Juden, die fast in Vergessenheit geraten war. Bis im Jahr 1947 mysteriöse Schriftrollen gefunden wurden, die in den Höhlen der umliegenden Berge versteckt worden waren.
Seltener Glücksfall für die Wissenschaft
Der Fund galt als Weltsensation, als seltener Glücksfall für die Wissenschaft – ähnlich wie der Fund des Grabes von Pharao Tutanchamun durch den englischen Archäologen Howard Carter im Jahr 1922 im Tal der Könige in Ägypten. Denn die Schriftrollen aus Pergament – Tierhäuten also – waren nach rund 2000 Jahren noch so gut erhalten, dass die Texte auf ihnen entziffert werden konnten.
Die Qumran-Schriftrollen vom Toten Meer gehören zu den wichtigsten archäologischen Funden des 20. Jahrhunderts. Auf ihnen sind unter anderem die bislang ältesten handschriftlichen Bibel-Texte festgehalten.
Sie heißen deshalb Qumran-Schriftrollen, weil sie zwischen 1947 und 1956 in elf Höhlen nahe der gleichnamigen Ruinenstätte gefunden wurden. Die Rollen sind eine Sammlung von Schriften in hebräischer, aramäischer und griechischer Sprache. Die ältesten datieren aus dem 3. Jahrhundert v. Chr.,die jüngsten aus dem späten ersten Jahrhundert n. Chr..
Fund wie aus einem Märchen aus 1001 Nacht
Während eines aufwendigen, jahrzehntelangen Sondierungsprozesses haben Forscher Teile des Alten Testaments, Kommentare zu biblischen Texten sowie Sektenschriften rekonstruiert. Die bedeutendste Schriftrolle ist die relativ gut erhaltene Jesaja-Rolle, eines alttestamentlichen Propheten-Buches der Bibel. Sie ist 7,34 Meter lang und gibt nahezu lückenlos den Text des Propheten Jesaja wieder.
Das Qumran ein Mythos ist, mag auch daran liegen, dass schon die Entdeckung der Schriftrollen wie ein Märchen aus 1001 Nacht klingt. Denn der Fund gelang nicht der Wissenschaft, nicht studiretn Archäologen, sondern einem kleinen Beduinenjungen.
Dieser war im Sommer 1947 auf der Suche nach einer Ziege, die ihm davongelaufen war. Weil er Angst hatte, sie könnte in eine der Höhlen gefallen sein, warf er Steine in einen der dunklen Schächte. Von der Ziege war nichts zu hören, dafür aber das Splittern von Tongefäßen. In ihnen steckten, wie der Beduinenjunge schnell herausfand, merkwürdige, in Leinen gewickelte Schriftrollen.
Die Funde des Jungen gelangten zunächst in die Hände von Händlern und über diesen Umweg schließlich in die von jüdischen und christlichen Wissenschaftlern. Schon bald war klar, welche Bedeutung die Rollen aus den Terrakottakrügen beinhalteten: Die Texte waren eine einzigartige Quelle für die religiösen Vorstellungen aus der Zeit, in der Jesus von Nazareth lebte.
Mekka der Archäologen und Theologen
Die Höhlen von Qumran wurden ein Mekka der Archäologen und Theologen, die weitere Schriftrollen und Tausende von Textfragmenten entdeckten. Seit 1951 fanden in der Siedlung der Essener Ausgrabungen statt, bei der die Grundmauern der Gebäude freigelegt wurden, die einer klösterlichen Siedlung ähnelten. Küche, Hof, Speisesaal und Schreibräume wurden gefunden.
Die Stätte hatten die Essener im Jahr 68 n. Chr. offenbar fluchtartig verlassen, wahrscheinlich aus Angst vor den anrückenden römischen Truppen während des jüdischen Aufstandes gegen die imperiale Besatzungsmacht. Ihre wertvollen Schriftrollen versteckten sie in den umliegenden Bergen.
KI-gestützte Neudatierung der Qumran-Texte
Jetzt ist ein neues Kapitel in der Qumran-Forschung aufgeschlagen worden. Viele der Schriftrollen sind früher entstanden als bisher angenommen, wie eine KI-gestützte Neudatierung enthüllt.
Einige biblische Textfragmente könnten demnach sogar bis in die Entstehungszeit des Alten Testaments zurückgehen, darunter Textteile aus dem Buch Daniel und dem Buch Kohelet. Auch die althebräischen Schriften entstanden der Datierung zufolge früher als angenommen.
Wer die Schreiber dieser Texte waren und warum sie in den Höhlen versteckt wurden, ist erst in Teilen geklärt. Auch wann genau die einzelnen Schriftrollen entstanden, ist unbekannt. „Es ist essenziell, die genaue Chronologie dieser handgeschriebenen Manuskripte zu ermitteln“, erklärt Mladen Popovic von der niederländischen Universität Groningen. Denn nur so lasse sich nachvollziehen, wie in dieser entscheidenden Phase der jüdischen und christlichen Geschichte neue Ideen und Vorstellungen entstanden seien.
Die Studie ist im Fachjournal „PLOS One“ erschienen“.
#A new AI-powered model now enables precise dating of individual #DeadSeaScrolls, revealing many are older than previously believed and aligning some biblical fragments with their presumed authors’ eras. @univgroningen@PLOSONEhttps://t.co/1BITXmV8IKhttps://t.co/emf31xdRhr — Phys.org (@physorg_com) June 5, 2025
Bisher war genaue Datierung der Schriften kaum möglich
Doch nur einige der ältesten und der jüngsten Schriftrollen-Fragmente tragen Datumsangaben im Text. Zwischen ihnen klafft eine Lücke von mehreren hundert Jahren. Zwar haben Schriftexperten versucht, diese Lücke durch Analysen der Handschriften und Sprachen zu schließen.
Doch aus dieser Zeit fehlen geeignete Vergleichs-Manuskripte aus umliegenden Teilen des Nahen Ostens. Dadurch lieferten solche paläografischen Vergleichsanalysen – also die Untersuchung alter, handgeschriebener Schriften – bisher kaum verlässliche Datierungen.
Schriftrollen sind älter als gedacht
Die Groninger Forscher haben nun eine Methode entwickelt, die es erstmals erlaubt, die Qumran-Schriftrollen sehr viel genauer zu datieren. Dafür kombinierten sie modernste Methoden der Radiokarbondatierung mit einer künstlichen Intelligenz namens "Enoch", die auf paläografische Vergleiche trainiert wurde.
„Mit der Enoch-KI haben wir eine neue Tür in die antike Welt geöffnet. Wie eine Zeitmaschine erlaubt sie es uns, die Handschrift der Personen zu studieren, die einst die Bibel schrieben.“
In einem ersten Schritt untersuchten die Wissenschaftler roben von 30 Schriftrollen aus Qumran, zwei weiteren Höhlen und aus Masada. „Die Resultate ergeben ein höheres Alter für die meisten Manuskripte“, berichten sie. Die neudatierten Qumran-Texte sind demnach größtenteils älter als zuvor geschätzt. Einige der ältesten Fragmente gehen bis weit vor 300 v. Chr. . zurück.
KI-System „Enoch” datiert weitere Schriftrollen
In einem zweiten Schritt nutzten Popovic und seine Kollegen das „Enoch“ getaufte KI-System, um auch 135 weitere Qumran-Texte zu datieren. Der Künstlichen Intelligenz gelang es, die Altersschätzung der Schriftrollen bis auf rund 30 Jahre zu präzisieren. Auch bei diesen 135 Fragmenten ergab sich dadurch für viele Texte ein höheres Alter.
„Ein Beispiel ist Fragment 4Q109, eine Abschrift des biblischen Buchs Kohelet. Experten gehen davon aus, dass dieses alttestamentarische Buch im dritten Jahrhundert v. Chr. verfasst wurde“, schreiben die Forscher. Bisher waren aus dieser Zeit aber keine Textfassungen bekannt. Die Enoch-KI datiert nun aber das Qumran-Fragment 4Q109 auf diese Zeit.
Schriften aus Zeit der Bibelautoren
Zusammen mit dem Textfragment aus dem Buch Daniel haben die Forscher damit zwei Qumran-Schriften entdeckt, die bis auf die Entstehungszeit alttestamentlicher Bücher zurückgehen.
„Zum ersten Mal haben wir damit zwei biblische Schriftrollen-Fragmente aus Zeit der Bibelautoren“, resümiert Popovic. „Unsere neue Herangehensweise an die Paläografie ergibt eine neue Chronologie der Schriftrollen und beeinflusst auch unser Verständnis der Geschichte des alten Judäa und der Menschen hinter den Schriftrollen.“
Info: Die Bibel – das Buch der Bücher
Tanach Das Wort Bibel (von altgriechisch „biblia“, Bücher) bezeichnet die Sammlung der heiligen Schriften von Juden und Christen. Tanach ist der Name für die jüdische Bibel, die aus insgesamt 24 Büchern besteht: Tora (Weisung), Nevi (Propheten) und Ketiuvim (Schriften).
66 biblische Bücher bei Protestanten – 73 bei Katholiken Die evangelischen Kirchen haben diese Schriften der jüdischen Bibel – des Tanach – übernommen, allerdings in 39 Bücher eingeteilt. Hinzu kommen die 27 Schriften des griechischen Neuen Testaments – zusammen 66 Bücher. Katholische Bibeln hingegen umfassen 73 Bücher. Dieser numerische Unterschied hat folgenden Grund: Der Reformator Martin Luther (1483-1546) hatte sieben Bücher, die im Judentum aus dem Tanach ausgeschlossen worden und in der katholischen Tradition Teil der Bibel waren, aus seiner Bibelübersetzung entfernt.
Bücher „erster“ und „zweiter“ Klasse Diese sogenannten deuterokanonischen Schriften wurden ursprünglich in die Vulgata, die lateinische Übersetzung der griechischen Bibel (die auch Septuaginta heißt) Ende des Vierten Jahrhunderts aufgenommen. Das Wort deuterokanonisch kommt vom Griechischen „deuteros“, zweiter. Das Gegenteil ist protokanonisch (von griechisch „protos“, erster), womit alle Schriften des Alten Testaments bezeichnet werden, die in der jüdischen und evangelischen Bibel enthalten sind.
Deuterokanonisch Mit deuterokanonischen Schriften ist Folgendes gemeint: Die bereits erwähnten sieben Schriften des Alten Testaments werden von der katholischen Kirche und teilweise von der orthodoxen Kirche sowie den altorientalischen Kirchen als fester Bestandteil der Bibel angesehen. Es handelt sich um das Buch Judit, das Buch Tobit, 1. und 2. Makkabäer, das Buch Baruch, die Weisheit Salomos, Jesus Sirach sowie die Anhänge zum Buch Ester und Daniel.Zusammen mit den anderen Büchern des Alten Testaments (seit der Vulgata sind dies 39) gelten sie als kanonisch. Dass heißt: Diese 46 Bücher wurden um das Jahr 400 von der Kirche endgültig als Teil der Bibel festgelegt (kanonisiert) und damit zum Maßstab (Kanon) des Glaubens und der Religionsausübung.
Vulgata Als Vulgata (von Lateinisch „vulgáta“, im Volk verbreitet) bezeichnet man die lateinische Bibelübersetzung. Seit der Spätantike hatte sie sich gegen ältere lateinische Übersetzungen durchgesetzt. Die „Vulgata“ basiert auf der lateinischen Übersetzung der biblischen Schriften aus dem Hebräischen und Griechischen durch den Kirchenvater Hieronymus (347-420 n. Chr.).
Vetus Latina Die älteren Übersetzungen werden auch unter dem Begriff Vetus Latina oder Altlateinische Bibel (von Lateinisch „vetus latina“, alte lateinische) zusammengefasst. Es handelt sich um sämtliche Übersetzungen der alt- und neutestamentlichen Schriften in die Lateinische Sprache, die vor der „Vulgata“ in Gebrauch waren. Die Vulgata war in der Spätantike und im Mittelalter die maßgebliche Bibelausgabe der Kirche.
Aramäisch Die Septuaginta (griechisch für „Übersetzung der Siebzig“) wiederum ist die älteste vollständige Übersetzung der hebräisch-aramäischen Bibel (Aramäisch war zur Zeit Jesu die Umgangssprache) in die antike altgriechische Alltagssprache, der sogenannten Koine. Die griechische Übersetzung entstand ab 250 v. Chr. und war bis 100 n. Chr. abgeschlossen.