BGH: Radfahrer trifft keine Mitschuld an Unfall

dpa Karlsruhe. Ein über einen Feldweg gespannter Stacheldraht wird für einen Mountainbiker zur gefährlichen Falle. Nun erstreitet der vom Hals abwärts gelähmte Mann eine hohe Summe Schmerzensgeld. Noch wichtiger ist ihm die Feststellung, dass er nicht selbst verantwortlich ist.

Eine Figur der Justitia. Foto: picture alliance/dpa/Symbolbild

Eine Figur der Justitia. Foto: picture alliance/dpa/Symbolbild

Einen Radfahrer, der an einem ungewöhnlich schwer erkennbaren Hindernis verunglückt, trifft grundsätzlich keine Mitschuld - auch wenn er schnell unterwegs war. Das hat der Bundesgerichtshof (BGH) in Karlsruhe am Donnerstag entschieden. Die Straßenverkehrsordnung verpflichtet Radfahrer, nur so schnell zu fahren, „dass innerhalb der übersehbaren Strecke gehalten werden kann“. Das gilt laut BGH aber nicht für Hindernisse, auf die nichts hindeutet. Sonst müssten sich Radfahrer permanent im Schneckentempo bewegen, um rechtzeitig bremsen zu können. (Az. III ZR 250/17 u.a.)

Ein früherer Marineoffizier aus Rostock kann damit auf eine große Summe Schmerzensgeld hoffen. Ihm war 2012 bei Hamburg auf einer Tour mit dem Mountainbike ein über einen Feldweg gespannter Stacheldraht zum Verhängnis geworden. Beim Bremsen stürzte er kopfüber in die Absperrung. Seither ist der 43-Jährige vom Hals abwärts gelähmt.

Der BGH macht dafür die örtliche Gemeinde - Braak (Kreis Stormarn) in Schleswig-Holstein - und zwei für das Gebiet zuständige Jagdpächter verantwortlich. Die Ende der 1980er Jahre errichtete Sperre sollte eine Ruhezone für Wild schaffen. Deshalb sind auch die Pächter in der Pflicht. Die Gemeinde hatte der Errichtung zugestimmt.

Ein früherer Jagdpächter hatte an Latten in der Mitte des Wegs ein Durchfahrt-verboten-Schild für Autos befestigt. Dass rechts und links davon Drähte gespannt waren, konnte der Mountainbiker nicht ahnen. Er wurde erst zwei Stunden später mit gebrochenem Halswirbel gefunden.

Er fordert mindestens 500 000 Euro. Außerdem geht es um lebenslange Kosten. Der Kläger ist dauerhaft hochgradig pflegebedürftig und wird rund um die Uhr von einem Assistententeam betreut.

Das Schleswig-Holsteinische Oberlandesgericht (OLG) war 2017 davon ausgegangen, dass Gemeinde und Pächter Pflichten verletzt haben - sie hätten mit Radfahrern rechnen müssen. Trotzdem sprachen die Richter dem Mann nur 25 Prozent der geforderten Summe zu. Er sei zu schnell gefahren und habe sein neues Rad nicht richtig beherrscht.

Das lassen die BGH-Richter so nicht stehen: Ein Hindernis wie der Stacheldraht sei „völlig ungewöhnlich und objektiv geradezu als tückisch anzusehen, so dass ein Fahrradfahrer hiermit nicht rechnen muss“. Das OLG könne ihm auch nicht vorwerfen, dass sich das Rad nur überschlagen habe, weil er mit dessen Bremsverhalten noch nicht gut genug vertraut gewesen sei. Er habe keine Zeit zum Überlegen gehabt und „aus verständlichem Erschrecken objektiv falsch reagiert“.

Nach dem BGH-Urteil bekommt der Kläger nun mindestens 75 Prozent der geforderten Summe. Ein gewisser Abzug bleibt möglich, weil er auf unbefestigtem Weg die Klickpedale genutzt hatte und aus ihnen nicht mehr rechtzeitig herauskam. Diesen Aspekt muss sich das OLG nun noch einmal genauer anschauen, bevor es abschließend entscheidet.

Kläger Christian Tiffert ist sehr erleichtert über das Urteil. Er prozessiere seit fast acht Jahren, sagte er. Bisher hätten die Gerichte die Schuld immer vor allem bei ihm gesehen. „Da kommt man schon ins Verzweifeln.“ Jetzt gebe es einfach die Aussage: Du hättest daran nichts ändern können. „Da fällt eine Riesenlast ab.“

Der Unfall sei ein unheimlicher Einschnitt gewesen, auch wenn er inzwischen ein neues Leben und neue Pläne habe. Seit zwei Jahren studiert Tiffert wieder. Er hat einen gemeinnützigen Verein für behinderte Kinder in Russland gegründet und trotz Elektrorollstuhl schon mehrere große Reisen durch das Land unternommen.

In einem zweiten Verfahren erhebt auch die Bundesrepublik als früherer Dienstherr Forderungen wegen des Unfalls. Sie verlangt noch einmal rund 580 000 Euro. Darüber muss das OLG neu verhandeln.

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Erstellt:
23. April 2020, 05:15 Uhr

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