Politik auf Tiktok
Bislang größte Nutzerstudie zu Tiktok – die Ergebnisse
Auf Tiktok sieht jeder etwas Anderes. Das macht Analysen schwer. Eine Gemeinschaftsrecherche wertet nun Daten von fast 700 echten Usern aus.

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Jeder Tiktok-Feed ist anders. Deshalb untersucht unsere Recherche rund 700 davon.
Von Simon Koenigsdorff, Jan Georg Plavec und Julika Wolf
Politische Inhalte sind auf der Videoplattform Tiktok selbst im Bundestagswahlkampf nur eine Randerscheinung. Das zeigt eine Auswertung aller Videos, die knapp 700 echten Usern angezeigt wurden. Lediglich knapp vier Prozent aller Clips im durchschnittlichen Tiktok-Feed hatten einen unmittelbar politischen Inhalt.
Die Daten wurden gemeinsam mit dem BR, dem Berliner Weizenbaum-Institut und der Uni Zürich gesammelt und ausgewertet. Es handelt sich laut dem Weizenbaum-Forscher Jakob Ohme um das mit Abstand größte Set realer Nutzerdaten. Die Analyse verspricht deshalb besonders realitätsnahe Einblicke in die Inhalte auf Tiktok. So zeigt sich auch, dass die von Politikern und Parteien geposteten Videos eine geringere Reichweite erzielen als die von Influencern und anderen nicht offiziellen Kanälen.
Links-grüne Filterblase
Bis zur Europawahl galt lediglich die rechtsextreme AfD auf der Plattform als erfolgreich. Mit der Kampagne „Reclaim Tiktok“ erarbeitete sich insbesondere die Linkspartei große Reichweiten unter den vornehmlich jungen Usern. Diese Reichweiten wurden in vielen Wahlanalysen als Grund für den Erfolg von Linkspartei und AfD insbesondere bei jungen Wählern ausgemacht.
Die Datenanalyse zeigt zumindest für das links-grüne Spektrum auf Tiktok, dass es nicht exklusiv von der Linkspartei angesprochen wird. Die teilnehmenden User wurden nach ihrer Wahlabsicht bei der Bundestagswahl befragt. Wähler von Linken, SPD und Grünen bekamen jeweils auch viele Videos der anderen Parteien angezeigt – aber nur selten von Kanälen, die der AfD, CDU oder FDP nahestanden. Das deutet darauf hin, dass die Tiktok-Nutzerschaft in mindestens zwei große politische Lager zerfällt.
Im Folgenden stellen wir die wichtigsten Erkenntnisse der Recherche in Kurzform vor. Längere Analysen sind jeweils verlinkt.
Tiktok ist nicht (mehr) nur ein Ort für Rechtspopulisten. Die Befragung analysiert erstmals und schwerpunktmäßig den linken Raum. Der Datensatz erlaubt es zwar nicht, den Einfluss aller Parteien auf Tiktok zu vergleichen. Jedoch konnten wir mehr als 500 Politiker- und Parteiaccounts und rund 100 Influencer links der CDU/CSU identifizieren.
Politiker, Parteien und Influencer erreichen vor allem diejenigen, die ihrer Meinung sind. Es gibt immer etwas Durchmischung und jede Wählergruppe sieht auch vereinzelt Videos aller anderen Parteien. Wir können somit keine absolut trennscharfen Filterblasen in unseren Daten entdecken. Wirklich divers sind die politischen Inhalte auf Tiktok aber nicht.
Es gibt ein links-grünes User-Milieu. Welchen Politiker- und Parteiaccounts man folgt und welche Partei die teilnehmenden User bei der Bundestagswahl gewählt haben, hängt stark mit dem Content zusammen, den die Teilnehmenden auf Tiktok sehen. Zwischen Linken, Grünen und SPD sind die Grenzen allerdings fließend: Wer beispielsweise vielen Linkspartei-Accounts folgt und die Linkspartei gewählt hat, sieht in der Regel auch Grünen- oder SPD-Content.
Politik ist auf Tiktok eine Randerscheinung. Lediglich 3,7 Prozent der Videos im durchschnittlichen Feed haben ein Hashtag, das auf politischen Content hinweist, nur je ein Prozent oder sind von einem Partei- oder Polit-Influencer-Account – und das, obwohl die Spender ein hohes Interesse an Politik angegeben haben. Männer bekommen in unserem Datensatz im Mittel doppelt so oft politische Videos angezeigt wie Frauen, folgen aber auch mehr Parteiaccounts als Frauen.
Politiker und Parteien dominieren auf Tiktok nicht – selbst im Wahlkampf. Parteiübergreifend sind im durchschnittlichen Feed mindestens 1,3 Prozent der Videos von politischen Influencern und 1,2 Prozent aller Videos von Parteien. Nur die reichweitenstärksten Influencer wurden untersucht – tatsächlich sind politische Influencer und andere politische Accounts wahrscheinlich noch stärker in den Feeds vertreten.
Methode und Datensatz
Im Februar haben BR, Stuttgarter Zeitung / Stuttgarter Nachrichten, Weizenbaum-Institut und Uni Zürich Tiktok-User zu Datenspenden aufgerufen. Insgesamt haben 681 Personen die Historie ihrer Tiktok-Aktivitäten und Wahlpräferenz an uns gespendet.
Die Spender:innen sind vor allem weiblich, zwischen 20 und 30 und gut gebildet. Die wenigsten von ihnen kommen aus Ostdeutschland. Etwa 80 Prozent der untersuchten Personen wählen Grüne oder Linke. Mit der Erststimme wählen auch viele SPD.
Der Datensatz ist damit nicht repräsentativ. Er erlaubt aber besser als alle anderen bisher verfügbaren Erhebungen einen Einblick in den von realen User auf Tiktok konsumierten politischen Content sowie erstmals detaillierte Analysen von linkem und grünem Content auf Tiktok.
Um die Feeds der Spender:innen vergleichbar zu machen, berechnen wir jeweils, wie viel Prozent bestimmte Inhalte (z.B. Parteivideos) an allen Tiktok-Videos ausmachen, die eine Person seit dem 1.1.2025 angesehen hat. Mit diesen Anteilen pro Person können wir betrachten, wie ein typischer oder durchschnittlicher Feed zusammengesetzt ist – entweder über alle Spender hinweg oder innerhalb einzelner Gruppen von Parteianhängern.