Bürgerkrieg in Syrien: Verfassungsausschuss nimmt Arbeit auf

dpa Genf. Millionen Menschen vertrieben, große Gebiete zerstört, humanitäre Not: Das Leiden in Syrien nach mehr als acht Jahren Krieg ist groß. Die UN hoffen, dass sich die Kriegsfeinde über den neuen Ausschuss annähern.

Mohammed Dschawad Sarif (l-r), Außenminister des Iran, Sergei Lawrow, Außenminister von Russland, und Mevlüt Cavusoglu, Außenminister der Türkei, nehmen an einer Pressekonferenz einen Tag vor der Sitzung des syrischen Verfassungsausschusses teil. Foto: Valentin Flauraud/Keystone/AP/dpa

Mohammed Dschawad Sarif (l-r), Außenminister des Iran, Sergei Lawrow, Außenminister von Russland, und Mevlüt Cavusoglu, Außenminister der Türkei, nehmen an einer Pressekonferenz einen Tag vor der Sitzung des syrischen Verfassungsausschusses teil. Foto: Valentin Flauraud/Keystone/AP/dpa

Nach mehr als acht Jahren Bürgerkrieg in Syrien soll ein neuer Verfassungsausschuss den Weg zu einer politischen Lösung für den Konflikt bahnen.

Das Gremium mit 150 Vertretern nahm am Mittwoch in Genf seine Arbeit auf, allerdings in frostiger Atmosphäre. Immerhin: Erstmals seit Beginn des Konflikts sitzen Regierung und Opposition an einem Tisch. „Dies ist ein historischer Moment“, sagte der UN-Syriengesandte Geir Pedersen bei der Eröffnung. „Die Tatsache, dass Sie bereit sind, einen Dialog zu starten, ist ein starkes Signal der Hoffnung für Syrer überall.“

Der Ausschuss soll unter dem Dach der Vereinten Nationen eine neue Verfassung ausarbeiten, über die die Syrer dann abstimmen sollen. Besetzt ist er mit jeweils 50 Vertretern der Regierung, der Opposition und der Zivilgesellschaft. Die Vereinten Nationen hoffen, so einen politischen Prozess starten zu können, der mit freien Wahlen unter UN-Aufsicht enden soll.

Die Erfolgserwartungen sind jedoch gering. Die Stimmung bei der Eröffnung in einem Saal des Genfer Völkerbundpalastes war unterkühlt. Die Vertreter von Regierung und Opposition saßen sich zwar direkt gegenüber, sprachen aber kein Wort miteinander. Die Co-Vorsitzenden, Ahmed Kusbari von der Regierung und Hadi al-Bahra von der Opposition, würdigten sich keines Blickes, von einem Handschlag gar nicht zu reden. Als Al-Bahra zwei Stühle neben Kusbari Platz nahm, schaute dieser in eine andere Richtung. Al-Bahra wiederum verfolgte Kusbaris Eröffnungsrede mit steifer Miene.

Der Vertreter der Regierung, ein syrischer Anwalt und Parlamentsabgeordneter, kündigte an, dass der „Krieg gegen den Terror“ auch während der Arbeit des Verfassungsausschusses fortgesetzt werde, bis „der letzte Fußbreit Syriens befreit ist“. Im Sprachgebrauch der Regierung gelten grundsätzlich alle bewaffneten Gegner als „Terroristen“. Zugleich rühmte Kusbari die Rolle der syrischen Truppen. „Wenn es die Opfer und die Heldentaten dieser Armee nicht gegeben hätte, wären wir nicht hier.“

Für die Opposition, die der Armee von Machthaber Baschar al-Assad schwere Kriegsverbrechen vorwirft, müssen solche Worte wie eine Provokation klingen. Al-Bahra erwiderte in seiner Rede, die Mitglieder des Ausschusses seien nach „acht schmerzhaften Jahren“ nach Genf gekommen, um nach Gemeinsamkeiten zu suchen, nicht nach Meinungsverschiedenheiten: „Ein Sieg in Syrien bedeutet, Gerechtigkeit und Frieden zu erlangen, nicht einen Krieg zu gewinnen - das wäre der einzige Sieg, an dem alle Syrer teilhaben könnten.“

Die Erwartungen an den Ausschuss sind auch deshalb gering, weil alle früheren Genfer Syrien-Gespräche über ein Ende der Gewalt erfolglos blieben. Assads Truppen konnten wichtige Gebiete wieder unter ihre Kontrolle bringen. Zuletzt durften sie im Zuge des Abkommens zwischen der Türkei und Russland über Nordsyrien kampflos wieder bis an die dortige Grenze vorrücken - in Gebiete, die in den vergangenen Jahren von der Kurdenmiliz YPG beherrscht worden waren. Beobachter gehen deshalb davon aus, dass Assad nicht zu Zugeständnissen bereit ist. Allenfalls sein Verbündeter Russland könnte ihn dazu drängen.

Kusbaris Worte lassen auch den Schluss zu, dass die Armee ihre Offensive auf die letzte große Rebellenhochburg um die Stadt Idlib im Nordwesten Syriens fortsetzen will. Seit Ausbruch des Konflikts im März 2011 sind mittlerweile mehr als 400.000 Menschen getötet worden. Große Teile des Landes wurden zerstört. Mehr als zwölf Millionen Syrer wurden von der Gewalt vertrieben, rund die Hälfte davon floh ins Ausland. In Idlib, aber auch in anderen Regionen ist die humanitäre Lage der Menschen Helfern zufolge katastrophal.

Schwierig war auch der Vorlauf des Verfassungsausschusses. Das Gremium war bereits im Januar 2018 bei einem „Kongress der syrischen Völker“ im russischen Badeort Sotschi vereinbart worden. Dennoch dauerte es fast zwei Jahre, bis der Ausschuss seine Arbeit aufnehmen konnte, weil es über Monate Streit über die Besetzung gab.

Die 50 Vertreter der Zivilgesellschaft wurden offiziell von den UN ausgewählt. Tatsächlich aber gab es im Hintergrund Druck wichtiger Akteure. So heißt es aus diplomatischen Kreisen, die Regierung und auch die Türkei hätten ihr Veto gegen bestimmte Kandidaten eingelegt.

Nicht vertreten ist etwa die kurdische Partei PYD, politischer Arm der Kurdenmiliz YPG, die von der Türkei als Terrororganisation angesehen wird. Damit fehlt eine der einflussreichsten syrischen Gruppen. Zudem soll die Regierung Druck auf Kandidaten und deren Familien ausgeübt haben, damit diese auf die Teilnahme verzichteten. Aktivisten der Zivilgesellschaft erklärten, sie sähen sich nicht durch die ausgewählten Vertreter repräsentiert.

Eine Kerngruppe aus 45 Ausschussmitgliedern wird die eigentliche Aufgabe übernehmen, eine Verfassung auszuarbeiten. Auch über deren Besetzung wurde gestritten. Wie lange die Beratungen dauern, ist offen. Es gibt keinen Zeitplan mit Fristen.

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Erstellt:
30. Oktober 2019, 15:54 Uhr

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