Parteienzoff in Belgien
Ohne Regierung, Pleite in Sicht: Chaostage in Brüssel
Belgiens Hauptstadt hat seit über einem Jahr keine Regierung und taumelt in Richtung Pleite. Die streitenden Parteien scheinen sich dafür aber nicht zu interessieren.

© Knut Krohn
Immer mehr Stadtteile in Brüssel, wie hier in Schaerbeek, drohen zu verwahrlosen.
Von Knut Krohn
In Brüssel ist das Chaos zuhause. Was das bedeutet, ist in der breiten Avenue de Stalingrad zu besichtigen. Dort, wo längst eine Metro-Station sein sollte, klafft seit Jahren ein gigantisches Loch. Die geplante Linie 3 soll eigentlich mitten durch das Zentrum der belgischen Hauptstadt führen und über zehn Kilometer lang die Quartiere im Norden und im Süden miteinander verbinden. Doch eine Mischung aus verwirrenden Vorschriften, Inkompetenz und Schludrigkeit hat die Arbeiten praktisch zum Erliegen gebracht.
Nun droht dem Prestigeobjekt endgültig der Todesstoß, denn es fehlt das Geld für den Weiterbau. Das liegt nicht nur daran, dass die Stadt praktisch pleite ist. Schwerer wiegt inzwischen, dass Brüssel seit über einem Jahr keine entscheidungsfähige Stadtregierung hat, die wichtige Projekte vorantreiben könnte.
Die Parteien streiten um die Macht in Brüssel
Seit der Wahl im Juni 2024 balgen sich die 14 Parteien wie eine Meute wütender Hunde um die Macht und eine Einigung liegt in weiter Ferne. In der aktuellen Phase der politischen Auseinandersetzung geht es noch nicht einmal um die diffizilen Sachfragen, gestritten wird im Moment nur darum, wer mit wem womöglich zusammenarbeiten könnte.
Ein Problem ist, dass sich die Grünen aus den Verhandlungen zurückgezogen haben, weil sie die großen Wahlverlierer sind und auf jeden Fall in die Opposition gehen werden. Also bräuchte es zur Bildung einer Mehrheit die flämischen Nationalisten der Partei Nieuw-Vlaamse Alliantie (N-VA). Mit denen wollen aber selbst die flämischen Sozialisten nicht koalieren, weil sie glauben, die Nationalisten möchten Belgien als Staat zerstören. In der Satzung der Partei steht tatsächlich ganz am Anfang noch die Forderung nach einer „unabhängigen Republik Flandern“. Dieser Satz gilt aber allenfalls noch als Folklore einer ehemals separatistischen politischen Kraft.
Brüssel verkommt zum Moloch
Was die Politiker bei ihrem parteipolitischen Taktieren nicht zu interessieren scheint, sind die realen Probleme der Stadt, die täglich größer werden. Viele der rund 1,3 Millionen Einwohner von Brüssel haben den Eindruck, dass ihre Stadt immer mehr zum Moloch verkommt. Der Wohnungsmarkt scheint aus den Fugen geraten, zwischen Vierteln mit exorbitanten Mieten und verwahrlosten Gettos. Der Nahverkehr läuft mehr schlecht als recht, die Müllsäcke bleiben oft über Wochen auf der Straße liegen, immer mehr Obdachlose übernachten in Hauseingängen und fast täglich wird über Schießereien im Drogenmilieu berichtet.
Verschärft wird die Situation durch die drohende Zahlungsunfähigkeit der Stadt. Im Moment nimmt Brüssel jedes Jahr rund 6,5 Milliarden Euro ein, gibt aber 8,5 Milliarden Euro aus. Der Schuldenstand hat sich inzwischen bei 14 Milliarden Euro eingependelt. Das führt zu kuriosen Situationen, dass die geschäftsführende Stadtregierung jüngst die Europäische Union anpumpen musste, damit der Rond-Point Schuman, ein großer Kreisverkehr vor dem EU-Kommissionsgebäude, weitergebaut werden kann. Selbst Belgiens Premierminister Bart de Wever ist deshalb der Kragen geplatzt. Er drohte, die Region Brüssel unter die Zwangsverwaltung des Bundes zu stellen, sollten die Parteiführer nicht in der Lage sein, sich zu einigen.
Die Nerven liegen bei manchen blank
Aber auch in der geschäftsführenden Stadtregierung liegen die Nerven blank. Seit Monaten kämpft etwa der Brüsseler Finanzminister Sven Gatz gegen die Haushaltskrise und den drohenden Bankrott – allerdings verfügt er über keine Befugnisse, weitreichende Entscheidungen zu treffen. In einer Sitzung warf er deshalb seinen Kollegen vor, sie würden ihn offensichtlich für eine Art Pizza-Lieferservice halten, der ihre ausgefallenen Wünsche erfülle. „Und wenn Sie die Schachtel öffnen, sind Sie alle enttäuscht, denn es ist eine Pizza Bianca“, tobte Sven Gatz. „Pizza Bianca ist sehr gut, aber sie besteht nur aus Teig, Olivenöl und Salz. Es gibt keine Artischocken, keinen Schinken, nicht einmal Basilikum. So ist die Situation.“
In diesen Wochen lag eine trügerische Ruhe über der Stadt, die Protagonisten hatten sich in die Sommerpause verabschiedet. Optimisten hofften, dass sich auch die Emotionen etwas legen würden und eine Art Neuanfang möglich wäre, aber das Gegenteil ist der Fall. In dieser Woche haben sich die Vorsitzenden der führenden Parteien zu Sondierungen getroffen, und es war ihnen wichtig, zuerst einmal kundzutun, mit wem sie auf keinen Fall zusammenarbeiten werden.