Das Hochrad auf dem Hausdach

Blick in das Archiv von Peter Wolf: Ums Backnanger Traditionsunternehmen Stroh ranken sich viele Geschichten. Die Tradition reicht bis ins 17. Jahrhundert zurück.

Seit 1975 ziert das Hochrad ein Wohnhaus auf dem Hagenbach in Backnang.

Seit 1975 ziert das Hochrad ein Wohnhaus auf dem Hagenbach in Backnang.

Von Claudia Ackermann

BACKNANG. Manch Kurioses ist in Peter Wolfs Archiv mit historischen Fotos zu finden. Hoch oben auf dem Dach eines Hauses am Marktplatz stand auf dem First ein Fahrrad, zu sehen auf einem Foto, das um das Jahr 1900 entstanden ist. Was hat es damit auf sich und welche Geschichte steckt hinter dem Haus und seinen Bewohnern?

Das Gebäude war Stammsitz der Familie Stroh, deren Handwerkertradition sich bis ins 17. Jahrhundert zurückverfolgen lässt. Bereits nach dem Dreißigjährigen Krieg (1618 bis 1648) übte der Handwerker Thomas Stroh Aufbauarbeiten aus, weiß sein Nachfahre Friedrich Stroh, der viel über die Geschichte seiner Familie zusammengetragen hat. Die Handwerkertradition wurde in der Familie weitergegeben. Johann Georg Stroh (1694 bis 1776), Zunftmeister des Schmiede- und Wagnerhandwerks, baute 1740 das Wohnhaus mit Werkstatt am Marktplatz, der früher auch „Schweinemarkt“ genannt wurde (heute Am Rathaus 7). Damals hieß es, dass das Haus der Stadt „zu einer sonderlichen Zierde gereiche“, weshalb er von der Gemeinde mit zwei Gratis-Eichen für den Hausbau beschenkt wurde. In dem Haus führten mehrere Generationen der Familie Stroh das Zeugschmiedehandwerk aus.

Hervorzuheben sind vor allem die Leistungen von Carl Friedrich Stroh (1826 bis 1896), der Schlosser und Mechaniker in dem Haus am Markt und auch Mitglied des Backnanger Gemeinderats war. Deshalb war er oft im gegenüberliegenden Rathaus tätig, weiß sein Urenkel Friedrich Stroh. Auf der Pariser Weltausstellung von 1855 erwarb Carl Friedrich Stroh die Lizenz zum Bau von Jacquard-Webstühlen, die er in seiner kleinen Werkstatt im Untergeschoss und später auch in der Spaltgasse produzierte, was ihn weit über die Grenzen Backnangs hinaus bekannt machte. „Er belieferte mit seinen Erzeugnissen – noch zur Zeit der Segelschiffe in der Mitte des 19. Jahrhunderts – die Märkte in Südamerika und Indien und erhielt auf den Weltausstellungen in Wien und Paris große Auszeichnungen dafür“, berichtet sein Urenkel. Von seinen Geschäftspartnern wurde Carl Friedrich Stroh mit Souvenirs aus den fernen Ländern beschenkt. So hingen in seinem Jagdzimmer etwa indianische Pfeile aus dem Amazonasgebiet. Als Kind wurde Friedrich Stroh davor gewarnt, sie zu berühren, da die Spitzen angeblich mit dem Pfeilgift Curare präpariert waren, erinnert er sich.

Carl Friedrich Stroh hatte neun Kinder. Technisch am begabtesten war Robert, der 1869 geboren wurde. Schon während seiner Schulzeit arbeitete er nachmittags in der Werkstatt mit. Er sollte das Geschäft einmal übernehmen. Im Alter von zwölf Jahren wünschte sich der Junge ein Fahrrad. Doch sein Vater wollte ihm diesen kostspieligen Wunsch nicht erfüllen und antwortete etwas wie: „Bua, schaff du erscht mol. Wenn a Geld verdiensch, kosch dr a Fahrrad kaufa.“ So verbrachte Robert viele Stunden in der Werkstatt, um sich das Rad, damals Veloziped genannt, selbst zu bauen. Als er 1883 damit fertig war, fuhr er noch im selben Jahr in seinem dreitägigen Jahresurlaub zu einem Radrennen nach Rüsselsheim, weiß Friedrich Stroh, dessen Großvater die Geschichte gerne erzählte. Damals gab es noch keine asphaltierten Straßen. „Und auch keinen Autobahnzubringer“, fügt Friedrich Stroh hinzu. Die schwierigste Strecke war gleich hinter Backnang, nämlich der Anstieg von Kleinaspach zur Sinzenburg. „Er musste absteigen und morgens um halber viere sein Gefährt hochschieben“, erinnert sich Friedrich Stroh an den Bericht seines Großvaters. Von Oberstenfeld aus waren die restlichen 180 Kilometer dann einigermaßen eben. Am nächsten Tag nahm er an dem Rennen teil. Als jüngster Teilnehmer war er mit in der Spitzengruppe dabei und erhielt als Preis einen Bierkrug. Das handbemalte Stück, das einen Radfahrer als Motiv und einen Zinndeckel hatte, war noch lange im Besitz der Familie Stroh.

Nachdem Robert Stroh das Geschäft seines Vaters übernommen hatte, handelte er auch mit Fahrrädern. 1898 befestigte er das Veloziped zu Werbezwecken auf dem Dachfirst des Geschäftshauses, wo es rund 50 Jahre lang thronte. Nach dem Zweiten Weltkrieg demontierte sein Sohn Otto Stroh, der 1925 das Geschäft übernommen hatte, das inzwischen stark verrostete Hochrad bei einem Ladenumbau. Der Inhaber hatte das Geschäft mit Fahrrädern eingestellt und sich auf Haushaltswaren und Landwirtschaftsgeräte spezialisiert.

Das alte Hochrad deponierte er zusammen mit anderem Schrott an einem Gartenpavillon in der Talstraße. 1969 ging das Haushaltswarengeschäft in andere Hände über, behielt aber den Namen Otto Stroh bis zu seiner Schließung im Sommer 2012. Heute befindet sich hier ein Friseurgeschäft.

Die Erinnerung an seinen Großvater und das Hochrad wollte Friedrich Stroh in Ehren halten. Um 1975 hatte er seinen Onkel Otto gebeten, ihm das Veloziped, das er als das „älteste Fahrrad Backnangs“ bezeichnet, zu überlassen. Er ließ es neu lackieren und befestigte es dann auf seinem Balkon. „Zur Dekoration und auch als Einbruchhemmnis“, wie er sagt. Dort, auf dem Hagenbach, erinnert es noch heute an die Geschichte.

Das Hochrad als Attraktion auf dem Dach eines Hauses am Marktplatz um 1900. Repros: P. Wolf

Das Hochrad als Attraktion auf dem Dach eines Hauses am Marktplatz um 1900. Repros: P. Wolf

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Erstellt:
12. Juni 2020, 16:00 Uhr

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