„Das Murrtal glich einem großen See“

Blick in das Archiv von Peter Wolf: Immer wieder war Backnang von schweren Überschwemmungen betroffen, die hohe Schäden zur Folge hatten. Mehrere Murrkorrekturen sollten Abhilfe schaffen, die erste große wurde von 1896 bis 1904 durchgeführt.

Ein Boot fährt durch die Schillerstraße bei der Überschwemmung 1931. Repros: P. Wolf

Ein Boot fährt durch die Schillerstraße bei der Überschwemmung 1931. Repros: P. Wolf

Von Claudia Ackermann

BACKNANG. Das Schicksal der Stadt war schon immer eng mit der Murr verwoben. Einst schützte der Fluss zusammen mit der Stadtmauer vor Eindringlingen. Das Wasser trieb die Räder der Mühlen an. Gerber übten am Ufer in Backnang ihr Handwerk aus. Doch die Murr sorgte auch immer wieder für verheerende Überschwemmungen.

Der Fluss entspringt bei Vorderwestermurr im Murrhardter Wald und mündet nach rund 55 Kilometern bei Marbach in den Neckar. Der Name Murr ist keltischen Ursprungs, bedeutet „schlammiger Fluss“ und bezieht sich auf das trübe Wasser des Flusses nach starken Regenfällen, informiert das Backnang-Lexikon. Die Murr prägt durch ihre drei großen Mäander nachhaltig das Stadtbild von Backnang, der größten Kommune entlang des Flusses. Auf dem steilen Prallhang des Burgberges wurden Burg und Kirche errichtet, während die eigentliche Stadt auf den zur Murr hin flach abfallenden Gleithang erbaut wurde.

Immer wieder wird in den Chroniken über zerstörende Überschwemmungen im Murrtal und im Backnanger Stadtgebiet berichtet. Besonders häufig waren die Murrhochwasser in den Wintermonaten und während der Schneeschmelze im Frühjahr. So kam es etwa 1819 zur fast vollständigen Zerstörung der Aspacher Brücke durch Hochwasser. Im Murrtal-Boten wird nach dem üblichen Januar-Hochwasser am 4. Februar 1862 in einem „Eingesandt“ geklagt, dass jedes Rettungsmittel an der Murr, wie Kahn und Flöße, fehlen, „obwohl die Stadt fast regelmäßig ein- oder mehrmals, oft jählings, von Überschwemmungen heimgesucht wird“.

„Ein Hochwasser, wie sich solches die ältesten Leute hier nicht entsinnen können.“

In den Folgejahren gab es besonders schlimme Hochwasser. Über den Höchststand der Wassermassen in der Nacht zum 3. Februar 1893 berichtete der Murrtal-Bote: „Der anhaltende Regen am gestrigen Tag brachte ein Hochwasser, wie sich solches die ältesten Leute hier nicht entsinnen können. Die Unmassen von Eisschollen, welche noch im ganzen oberen Thal festsaßen, stürmten mit der größten Wucht gegen die Brücken und Gebäude, vieles mit sich reißend und sich in Gärten und Lagen drängend, welche in dieser Höhe noch nie von Eismassen berührt wurden.“

Am 9. Februar 1893 beklagt sich ein Bürger im Murrtal-Boten: „Bei jährlichen Überschwemmungsschäden von 5000 Mark sollte endlich etwas gegen das Hochwasser unternommen werden.“

Zum Jahr 1900 heißt es: „Das Jahr endet so, wie es begonnen hat: Die Murr führt wieder Hochwasser. Die Bewohner der unteren Stadt bergen ihre Kellervorräte und räumen ihre Wohnungen, Werkstätten und Stallungen“, informiert Hermann Reinhardt in seinem Aufsatz „Die Flussgeschichte der Murr“ im Backnanger Jahrbuch Band 9 von 2001. Da die Hochwassersituation immer unerträglicher wurde, begann man mit der Planung einer „Murrkorrektion“ im Backnanger Stadtgebiet auf einer Länge von 3,5 Kilometern, die von 1896 bis 1904 durchgeführt wurde. Zunächst begann man 1896/97 mit den Arbeiten unterhalb des Biegel-Wehrs bis zur Unteren Fabrik.

Die Strecke vom Biegel-Wehr bis zur Sulzbacher Brücke kam 1904 zur Ausführung. Das bisher etwa zwölf Meter breite Murrbett wurde hier auf durchschnittlich 26 Meter verbreitert und parallel zur Badstraße (heute Talstraße) mit einer mehr als zwei Meter hohen Stahlbetonmauer versehen, schreibt Rudolf Kühn in dem Aufsatz „Die Frühzeit der Industrie in Backnang“ im Backnanger Jahrbuch Band 8, das im Jahr 2000 erschienen ist. In die Mauer integriert waren acht Treppenabgänge, über die die Gerber zu ihren Wasserplätzen gelangen konnten.

Trotz der Berechnungen der zuständigen Stellen, denen die Ausmaße des Hochwassers von 1893 zugrunde lagen, überschwemmte die Murr das Tal und die Stadt in den folgenden Jahren erneut. Am 9. September 1912 führte die Murr als Folge lang anhaltender Niederschläge solche Wassermassen talabwärts, dass die im Jahr zuvor fertiggestellte Aspacher Brücke 80 Zentimeter hoch überschwemmt wurde und sich ein verheerender Rückstau bildete, informiert Reinhardt weiter. Die Bewohner der unteren Stadtteile mussten ihre Wohnungen und Geschäfte räumen. Der Betrieb der Gerbereien und Fabriken kam zum Erliegen, und der Verkehr über die Brücke war unterbrochen. „Das ganze Murrtal glich wieder einmal einem großen See.“

Die Folge der schweren Hochwasser riss nicht ab. So hieß es auch 1914 in Backnang wieder: „Land unter.“ Sehr schwer waren die Gerber betroffen, die ihre Häute in der Murr hängen hatten, und diese anschließend bis nach Burgstall am Flusslauf suchen mussten. Bei den Häusern am Biegel stieg die Murr um fast zwei Meter.

Auch in den 1920er- und 1930er-Jahren richteten Hochwasserkatastrophen wiederum schwere Schäden an. Auf einem Foto von 1931 ist zu sehen, wie ein Paddelboot von der Aspacher Brücke kommend, die Schillerstraße entlang und an der Buchdruckerei Mürdter vorbei, in Richtung Innenstadt fuhr. Die Stadt entschloss sich zu weiteren Maßnahmen. So wurde vom Reichsarbeitsdienst 1933/34 der Bereich der Oberen Walke kanalähnlich begradigt und der Murr damit in diesem Bereich ein völlig neues Aussehen gegeben, so Reinhardt. Trotzdem gab es bis Anfang der 1950er-Jahre weitere Überschwemmungen, die im Backnanger Stadtgebiet zu erheblichen Schäden führten. Eine erneute Korrektur war unumgänglich.

„Seit der dritten Murrkorrektur ist Backnang von Überschwemmungen weitgehend verschont geblieben.“

Am 12. April 1956 begann die dritte und größte Murrkorrektur im Backnanger Stadtgebiet. Die Arbeiten erstreckten sich vom Wehr beim Biegel in Richtung Etzwiesen bis nach Neuschöntal. Bis zur Fertigstellung im Mai 1959 bewegte man auf einer Strecke von 2,3 Kilometern 65000 Kubikmeter Erde. Die tiefergelegte Flusssohle wurde wegen der starken Erosionskraft der Murr auf Zementunterlage durchgehend gepflastert.

„Seit dieser dritten und größten Murrkorrektur ist Backnang von Überschwemmungen, wie sie früher an der Tagesordnung waren, weitgehend verschont geblieben“, schreibt Reinhardt im Backnanger Jahrbuch 2001. Dass die Gefahr jedoch immer noch nicht gebannt war, zeigte das besonders starke Hochwasser nach Schneeschmelze und Dauerregen im Januar 2011, das in Geschäften und Wohngebäuden in der Backnanger Innenstadt hohen Sachschaden verursachte und bei dem Rettungskräfte wieder mit Booten durch die Schillerstraße fuhren.

Die Biegel-Häuser beim Hochwasser 1914 mit einem Anstieg von fast zwei Metern.

Die Biegel-Häuser beim Hochwasser 1914 mit einem Anstieg von fast zwei Metern.

Murrkorrektur im Jahr 1904 unterhalb der Sulzbacher Brücke.

Murrkorrektur im Jahr 1904 unterhalb der Sulzbacher Brücke.

Zum Artikel

Erstellt:
8. Juni 2021, 06:00 Uhr

Artikel empfehlen

Artikel Aktionen

Lesen Sie jetzt!
Im Café „Base – on the river“ an den Murrtreppen in Backnang weist ein Schild die Gäste auf das Cannabisverbot hin. Foto: Alexander Becher
Top

Stadt & Kreis

Backnang will Kiffen auf dem Straßenfest verbieten

Die Stadtverwaltung in Backnang plant, das Rauchen von Cannabis auf dem Straßenfest zu untersagen. Auch andernorts wird das Kiffen trotz Teillegalisierung verboten bleiben, beispielsweise in Freibädern. Viele Gastrobetreiber wollen keine Joints in ihren Außenbereichen.

Stadt & Kreis

Saskia Esken stellt sich wütenden Fragen in Weissach im Tal

Die Bundesvorsitzende der SPD nimmt auf Einladung des Ortsvereins Weissacher Tal auf dem Roten Stuhl Platz. Die Besucherinnen und Besucher diskutieren mit ihr über die Themen Wohnungsbau, Ukrainekrieg, Verkehr und die Politik der Ampelkoalition.

Stadt & Kreis

Murrhardter Pflegeheim setzt auf ausländisches Personal

Der Fachkräftemangel belastet die Pflegeheime. Das Haus Hohenstein in Murrhardt setzt mit Blick auf die schwierige Lage auch auf Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, die aus Nicht-EU-Ländern kommen und (nach-)qualifiziert werden. Zwei Pflegefachkräfte aus der Türkei berichten von ihrem Weg.