„Demokratie darf nicht stillstehen“

Kreistag tritt unter strengen Vorkehrungen in Notbesetzung zusammen – Coronakrise reißt ein Loch von 25 Millionen Euro

In halber Besetzung und unter strengem Infektionsschutz ist der Kreistag gestern zu seiner ersten Sitzung seit Beginn der Coronakrise zusammengetreten. Vorab hatte Landrat Richard Sigel in einem Schreiben deutlich gemacht, dass „die Demokratie auch in Corona-Zeiten nicht stillstehen darf“. Gleichwohl ging es ungewöhnlich flott: Der öffentliche Teil war nach knapp einer Stunde erledigt.

Sitzung unter außergewöhnlichen Umständen: Große Abstände und weitere Vorkehrungen sind dem Infektionsschutz geschuldet. Es sollte gestern eine „kompakte Sitzung“ werden, wie Landrat Richard Sigel sagte, und es wurde eine der kürzesten Zusammenkünfte, zu denen der Rems-Murr-Kreistag je zusammengetreten ist. Nach einer knappen Stunde war die Tagesordnung im öffentlichen Teil abgearbeitet. Foto: G. Habermann

© Gabriel Habermann

Sitzung unter außergewöhnlichen Umständen: Große Abstände und weitere Vorkehrungen sind dem Infektionsschutz geschuldet. Es sollte gestern eine „kompakte Sitzung“ werden, wie Landrat Richard Sigel sagte, und es wurde eine der kürzesten Zusammenkünfte, zu denen der Rems-Murr-Kreistag je zusammengetreten ist. Nach einer knappen Stunde war die Tagesordnung im öffentlichen Teil abgearbeitet. Foto: G. Habermann

Von Armin Fechter

FELLBACH. Eine befremdliche Atmosphäre herrschte gestern im größten Raum der Schwabenlandhalle. Im Hölderlinsaal, wo sonst bis zu 1400 Besucher Platz finden, saßen knapp 50 Kreisräte an einzelnen Tischen – nur so viele, dass die gesetzlich geforderte Anzahl erfüllt war. Hinzu kamen der Landrat, einige Verwaltungsmitarbeiter und Pressevertreter.

Erstmals in der Geschichte des Kreistags gab es nicht nur diese Notbesetzung, sondern auch einen Livestream für die nicht anwesenden Kreisräte, die der Sitzung somit zu Hause folgen konnten.

Die meisten Gremiumsmitglieder kamen mit Schutzmasken an. Wer sie nicht sowieso schon trug, setzte sie rasch auf. Reichlich Gebrauch gemacht wurde auch von dem Angebot, die Hände zu desinfizieren. Das befreiende Wort kam dann von Richard Sigel, als er die Sitzung eröffnete: Da man ja dank der Sitzordnung genügend Abstand wahre, könne man die Maske auch abnehmen.

In einem kurzen Rückblick auf die zurückliegenden Pandemie-Wochen brachte Sigel kritische Worte in Richtung Landes- und Bundespolitik an: Dort werde Vieles auf den letzten Drücker geregelt und dann einfach vorausgesetzt, dass offene Fragen und praktische Probleme auf der Ebene der Landkreise sowie der Städte und Gemeinden schon gelöst würden. Als Beispiel nannte er die Ankündigung, dass die Zahl der Testungen im Land verdoppelt werde. „Sicher eine gute Strategie“, so der Landrat. Aber: Es gibt noch nicht einmal belastbare Kostenzusagen für flächendeckende Tests in Alten- und Pflegeheimen. Ebenso müssten die kommunalen Träger auch die Liquidität der Kliniken vorerst sicherstellen, ohne dabei Klarheit zu haben, wann und wie die Erstattungen fließen und wann die Kliniken wieder hochgefahren werden. Und schließlich: Allerorten werde höchster Wert darauf gelegt, die direkten Kontaktpersonen Erkrankter zu ermitteln – doch eine saubere Regelung, wie man mit dem Datenschutz umgeht, fehle. „Aber es stimmt, wir bekommen es vor Ort hin“, sagte Sigel auch mit einem Dank an die Kommunen.

Warum aber musste der Kreistag überhaupt zusammentreten? Sitzungen verschiedener Ausschüsse waren ja abgesagt worden. Es gebe, so begründete Sigel, einige wichtige Entscheidungen zu treffen, um den Gang der Dinge innerhalb und außerhalb der Verwaltung sowie die anvisierten Projekte nicht auszubremsen. Hinzu kommt: Die technischen Möglichkeiten für eine virtuelle Sitzung reichen nicht aus, von der fehlenden rechtlichen Grundlage ganz zu schweigen. Auch für Beschlüsse im Umlaufverfahren sei erst die Landkreisordnung zu ändern.

Die Zusammenarbeit im Kreis ist laut Landrat Sigel einmalig

Deutschland, so fuhr Sigel fort, erlebe einen bundesweiten Stresstest: „Es macht mich stolz und erfüllt mich mit tiefer Dankbarkeit, wenn ich sehe, wie wir im Rems-Murr-Kreis angesichts dieses Stresstests zusammenarbeiten.“ 600 Freiwillige hätten sich zur Unterstützung für die Kliniken gemeldet: „Das ist einmalig.“ Auch die Zusammenarbeit mit Hilfsorganisationen, Ärzteschaft und Kammern klappt aus Sicht des Landrats.

Corona habe aber auch Schwächen sichtbar gemacht, etwa eine mögliche Knappheit bei Schutzausrüstung, Atemgeräten und Intensivbetten. Darauf habe man reagiert und mit Lieferanten aus dem Kreis neue Ideen und Lieferketten für die Zukunft angestoßen. Zudem machen die geplanten Investitionen aus Sigels Sicht die Rems-Murr-Kliniken krisensicher. Dabei werde mit dem Campusgedanken an beiden Standorten eine Konzeption verfolgt, die sich schon jetzt als Stärke erweise: die interdisziplinäre und sektorenübergreifende Zusammenarbeit in der Gesundheitswirtschaft. Und schließlich zahle sich die Strategie für den Rettungsdienst mit neuen Standorten und mehr Personal aus.

Laut Landrat sind die aktuellen Fallzahlen im Kreis am Sinken. In den Kliniken seien derzeit 40 positiv getestete Patienten, bei 20 weiteren stehe das Ergebnis noch aus. Und nur noch neun oder zehn Beatmungsgeräte seien belegt.

Die Coronakrise hat aber finanzielle Auswirkungen auf den Landkreis. Um welche Summen es letztendlich geht, ist nach den Worten von Peter Schäfer noch nicht genau zu beziffern. Der Finanzdezernent aus dem Landratsamt geht, wie er im Kreistag sagte, nach einer ersten Schätzung von einer Verschlechterung im Haushalt in Höhe von rund 25 Millionen Euro aus. Dieser Betrag könne aber dank eines guten Ergebnisses im vergangenen Jahr fast vollständig kompensiert werden. Auf Unterstützung angewiesen sind insbesondere die Rems-Murr-Kliniken. Entsprechende Zusagen, um Liquiditätsengpässe zu vermeiden, wurden bereits gemacht – gestern erfolgte der förmliche Beschluss, eine zusätzliche Ausfallbürgschaft in Höhe von 40 Millionen Euro für die Kliniken zu übernehmen. Damit kann die Kontokorrentlinie von bislang 35 auf 75 Millionen Euro erhöht und damit die Zahlungsfähigkeit entsprechend gesichert werden.

Nötig geworden ist dieser Schutzschirm, weil geplante Eingriffe seit dem 16. März abgesagt wurden, um ausreichende Kapazitäten für Corona-Patienten bereitzuhalten. Gleichzeitig sind zusätzliche Kosten zu verkraften, etwa die Beschaffung von persönlicher Schutzausrüstung für die Mitarbeiter. Auch Hygienemaßnahmen und zusätzliches Personal schlagen in der Kasse zu Buche. Das müsse jedoch, so die Kreisverwaltung, im Zusammenhang mit den von Berlin angekündigten Hilfen gesehen werden: Je nach Umfang des Maßnahmenpakets der Bundesregierung werde sich der in den kommenden Monaten zu erwartende Verlust von bis zu 40 Millionen Euro reduzieren – „bestenfalls auf Null“.

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Erstellt:
28. April 2020, 06:00 Uhr

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