Demokratie im Digitalformat

In der Coronapandemie mit ihren Abstands- und Hygieneregeln drängt sich die Frage nach mehr Digitalisierung in den Entscheidungsprozessen auch auf kommunalpolitischer Ebene verstärkt auf. Doch die Ratssitzung per Mausklick ist noch fern.

Die Gemeinderatssitzung in Oppenweiler wird aufgezeichnet und gestreamt, also als Livevideo online übertragen, aber nicht gespeichert. Fotos: A. Becher, privat

© Alexander Becher

Die Gemeinderatssitzung in Oppenweiler wird aufgezeichnet und gestreamt, also als Livevideo online übertragen, aber nicht gespeichert. Fotos: A. Becher, privat

Von Bernhard Romanowski

WAIBLINGEN. Die Coronakrise hat auch im kommunalpolitischen Betrieb erhebliche Folgen gezeitigt. Eine Zeit lang wurde in vielen Kommunen nur das Nötigste zwischen der Verwaltung und den politischen Fraktionen per Telefon abgestimmt und per Eilentscheidung der Bürgermeister besiegelt.

Allzu viel lässt sich auf diesem Wege aber nicht regeln, auch weil dadurch die Beteiligung der Öffentlichkeit nicht gewährleistet werden kann. Und das ist in einer Demokratie, zumindest was die Beschlussfassungen der Räte in öffentlicher Sitzung betrifft, eine wichtige Voraussetzung. Dazu gab es allerdings just eine Änderung der Kommunalverfassung, wie Timo Mäule erläutert, der das Haupt- und Personalamt der Stadt Backnang leitet. Demnach dürfen fortan „Gegenstände einfacher Art“ in einer digitalen Sitzung beschlossen werden, in einer Sitzung also, bei der die Teilnehmer via Internet miteinander kommunizieren und auch ihr Votum abgeben, sofern ein Beschluss zu fassen ist.

Hier ist die Rede von sogenannten Umsetzungsbeschlüssen, wie man sie benötigt, um die Anschaffung bestimmter Dinge oder die Auftragsvergabe für bereits beschlossene Bauprojekte auf den Weg zu bringen. Grundsatzbeschlüsse dürfen auf diesem Weg nicht gefasst werden, da die Möglichkeit der Öffentlichkeitsbeteiligung hier nicht ausreichend gegeben sei, wie Mäule betont.

Für mehr Bürgerbeteiligung und Transparenz könnten Videoübertragungen im Internet sorgen, so ist oft zu hören. Eine Ratssitzung digital zu übertragen, sie beispielsweise via Internetvideo für alle zugänglich machen zu wollen, ist indessen kein einfaches Unterfangen, wie Mäule sagt. Es stelle einen erheblichen Aufwand an Arbeit ebenso wie an finanziellen Kosten dar. Es sei nicht damit getan, eine Kamera aufzustellen und loszufilmen, wie Mäule betont. Denn es gebe eine Menge dabei zu beachten.

Sobald sich ein Ratsmitglied nicht gewillt sieht, in einer solchen Sitzung gefilmt zu werden und sich anschließend im Internet wiederzufinden, geht der Aufwand los. Dann müsste die betreffende Person, sofern sie im Bild auftaucht, gepixelt, also digital unkenntlich gemacht werden. Oder die Sequenzen, in denen sie zu sehen ist, müssen rausgeschnitten werden. Das gilt freilich auch für etwaige Referenten, die in einer Sitzung einen Vortrag halten, oder Bürger, die der Sitzung als Zuschauer beiwohnen und nicht online erscheinen wollen.

Wer sich nun fragt, warum man sich etwa als Ratsmitglied gegen eine solche Veröffentlichung sträuben sollte, muss bedenken, welche Formen des Missbrauchs hier möglich sind. Denn das Videomaterial kann von jedermann aus dem Internet abgerufen und eben auch von jedem bearbeitet werden, der dazu in der Lage ist. Dann lassen sich ganz leicht Sequenzen aus der Ratssitzung nehmen und in einen bestimmten Kontext setzen. Je nach Wunsch des Videomonteurs könnten sie so eine ganz andere Deutungsart und Aussage bekommen, also kurz gesagt völlig verfremdet werden. Das klingt sehr theoretisch, dürfte aber jedem bekannt sein aus Comedy- oder Kabarettsendungen, in denen das zu humoristischen Zwecken gängige Praxis ist. Weit weniger zum Lachen ist es allerdings, wenn die Technik dann eben dazu genutzt wird, bestimmte Personen diffamierend darzustellen oder spezielle Sachverhalte in einem ganz anderen Licht erscheinen zu lassen. Denn solches Videomaterial lässt sich eben auch in ideologischer und propagandistischer Weise anwenden.

Die Stadt Konstanz hat es nun so geregelt, dass die Ratssitzungen als sogenannte Podcasts, also digitale Bild- und Tondateien, geordnet nach den Ordnungspunkten der jeweiligen Tagesordnung, auf der städtischen Homepage veröffentlicht werden. So wird es in der Stadt am Bodensee allerdings nicht erst seit der Coronakrise gehandhabt, sondern bereits seit dem Jahr 2014.

In Backnang hat die AfD-Fraktion im Gemeinderat den Antrag gestellt, die Sitzungen dieses Gremiums digital zu übertragen. Die Stadtverwaltung hat daraufhin Nutzen und Kosten dieses Verfahrens gegeneinander abgewägt und sieht überwiegend Gründe dagegen gegeben. Zumal Backnang schon über ein Ratsinformationssystem verfüge, in dem die Beschlussvorlagen für die Rats- und Ausschussmitglieder ebenso wie für jedermann per Internet einsehbar sind, wie Hauptamtsleiter Mäule erklärt. „Es ist schon schade, dass viele der Bürgermeister da so unflexibel sind“, meint hingegen Philip Köngeter. Er sitzt für die Linke-Fraktion im Rems-Murr-Kreistag und vertritt im Welzheimer Gemeinderat die Piratenpartei. Jene Partei also, der die Themen politische Transparenz und Partizipation sowie Datenschutz und Digitalisierung seit ihrer Gründung als Kernkompetenz zugeschrieben wurden.

Der 28-Jährige ist jedenfalls der Auffassung, dass die datenschutzrechtlichen Probleme behebbar sind, wie er im Gespräch mit unserer Zeitung sagt. Um den Weg zu digitalen Sitzungen der Kommunalgremien frei zu machen, müsse eben nur die Landkreisordnung angepasst werden, so der gelernte Mechatroniker. Köngeter: „Die meisten Bürgermeister stecken noch im letzten Jahrhundert und sehen das als Bedrohung statt als Chance.“ Mit „Chance“ meint der Welzheimer die Möglichkeit, die Bürger besser und einfacher in der Gremienarbeit teilhaben lassen zu können. Es gehe darum, mehr Öffentlichkeit zu erzeugen, sagt er und verweist auf die zumeist leeren Sitze im Zuschauerraum bei öffentlichen Ratssitzungen oder im Kreistag. Das liege nicht an mangelndem Interesse, sondern an den ungünstigen Zeiten, zu denen die Sitzungen anberaumt seien, meint er. „Das sehe ich ja in Welzheim selber. Das ist vielen zu spät, und deshalb kommt auch keiner“, erläutert er, spricht zudem aber von einer großen Umfrage, die jüngst in Welzheim durchgeführt worden sei. Hierbei habe eine deutliche Mehrheit der Befragten bekundet, dass sie sich die Ratssitzungen im Internet durchaus ansehen würden. „Das Interesse der Bürger ist da“, so Köngeter, der seit 2009 politisch aktiv ist. Die Tools, also die digitalen Werkzeuge dazu, gebe es bereits. Allerdings solle das nicht jede Kommune einzeln machen, zumal es sehr viele Kommunen in Deutschland gebe. Köngeter sieht eher ein System für alle angeraten. In der Gemeinde Oppenweiler ist man da schon ein gutes Stück vorangekommen und hat quasi einen Mittelweg gewählt. Es finden Präsenzsitzungen des Rats wie gehabt statt, unter Wahrung der Coronabestimmungen zu Abstand und Hygiene. Im öffentlichen Teil sind auch die Bürger ohne Ratsmandat nach wie vor als Zuhörer zugelassen. Die Sitzungen werden in Oppenweiler aber nun schon seit geraumer Zeit mit der Kamera gefilmt und als Videostream ins Netz gestellt, wo die Sitzungen dann live – heutzutage heißt es auch gerne: in Echtzeit – per Internet verfolgt werden können. Wichtig ist: Es findet keine Aufzeichnung statt, das Filmmaterial ist nur einmalig verfügbar, während die Ratssitzung läuft. Ebenso wichtig: Alle Personen, die von der Kamera erfasst werden, haben vorher ihr Einverständnis dazu abgegeben, wie der Oppenweiler Bürgermeister Bernhard Bühler betont. Die Einwilligung von allen Beteiligten einzuholen, also beispielsweise auch von Referenten, die während der Sitzung einen Vortrag halten, ist dazu unabdingbar. Die Bürger im Zuhörerraum werden nicht gefilmt. Auch dann nicht, wenn sie – etwa während der Bürgerfragestunde – das Wort erteilt bekommen. Das bereitet keine großen Schwierigkeiten. „Denn die Kamera steht so, dass die Bürger gar nicht im Bild sind“, erklärt Bühler. Aber was passiert, wenn nun doch jemand vor der Sitzung erklärt, dass er nicht gefilmt werden will? Bühler: „Dann müssten wir die Konsequenz ziehen und könnten es wohl gar nicht mehr machen.“

„Der im Mai vom Landtag beschlossene Paragraf 32a der Landkreisordnung lässt nur die digitale Teilnahme der Kreisräte zum Schutz der Gesundheit der Mandatsträger zu. Für Bürger besteht weiterhin Präsenzpflicht, da Gemeinde- und Landkreisordnung mit dem Begriff Öffentlichkeit stets die Saalöffentlichkeit meint“, teilt das Landratsamt des Rems-Murr-Kreises auf Nachfrage mit. Dort zitiert man aus der Gesetzesbegründung zum Thema Videostream: „Eine zusätzliche Übertragung im Internet ist nur unter Beachtung der gleichen datenschutzrechtlichen Vorkehrungen möglich, die auch bei Liveübertragungen von Präsenzsitzungen zu beachten sind (insbesondere das Vorliegen von Einwilligungserklärungen sämtlicher Beteiligter).“ Rein rechtlich könnten durch die Durchführung eines Videostreams Beschlüsse unrechtmäßig werden, die inhaltlich nicht zu beanstanden sind, mahnt man seitens der Kreisverwaltung und bezieht sich zum Teil auf Aussagen des baden-württembergischen Beauftragten für Datenschutz.

Die Digitalisierung sei indessen heute fester Bestandteil der Lebenswirklichkeit der Mehrheit der Einwohner. „Und gerade in der Lebenswirklichkeit ihrer Einwohner müssen Landkreis und Kommunen stattfinden“, so die Meinung im Landratsamt. Dies sei aber nur möglich, wenn Bund und Land die Voraussetzungen hierfür schaffen. „Aber insbesondere der neu eingeführte Paragraf 32a der Landkreisordnung zeigt, wie es nicht geht. Im Zuge des Gesetzgebungsprozesses haben der Landkreistag, der Städtetag und der Gemeindetag gemeinsame Vorschläge gemacht, um mehr Digitalisierung möglich zu machen. Leider wurden diese nicht gehört und der Landtag hat sich auf eine Symbolpolitik beschränkt“, so Landrat Richard Sigel.

Demokratie im Digitalformat

„Es ist schon schade, dass viele

Bürgermeister so

unflexibel sind.“

Philip Köngeter,

Mitglied der Piratenpartei

Was sagt der Gesetzgeber zum Thema „Digitale Sitzung“?

Durchführung von Sitzungen ohne persönliche Anwesenheit der Mitglieder im Sitzungsraum (Paragraf 32a Landkreisordnung):

(1) Durch die Hauptsatzung kann bestimmt werden, dass notwendige Sitzungen des Kreistags ohne persönliche Anwesenheit der Mitglieder im Sitzungsraum durchgeführt werden können; dies gilt nur, sofern eine Beratung und Beschlussfassung durch zeitgleiche Übertragung von Bild und Ton mittels geeigneter technischer Hilfsmittel, insbesondere in Form einer Videokonferenz, möglich ist. Dieses Verfahren darf bei Gegenständen einfacher Art gewählt werden; bei anderen Gegenständen darf es nur gewählt werden, wenn die Sitzung andernfalls aus schwerwiegenden Gründen nicht ordnungsgemäß durchgeführt werden könnte. Schwerwiegende Gründe liegen insbesondere vor bei Naturkatastrophen, aus Gründen des Seuchenschutzes, sonstigen außergewöhnlichen Notsituationen oder wenn aus anderen Gründen eine ordnungsgemäße Durchführung ansonsten unzumutbar wäre. Bei öffentlichen Sitzungen nach Satz 1 muss eine zeitgleiche Übertragung von Bild und Ton in einen öffentlich zugänglichen Raum erfolgen.

(2) Der Landkreis hat sicherzustellen, dass die technischen Anforderungen und die datenschutzrechtlichen Bestimmungen für eine ordnungsgemäße Durchführung der Sitzung einschließlich Beratung und Beschlussfassung eingehalten werden. In einer Sitzung nach Absatz 1 Satz 1 dürfen Wahlen im Sinne von Paragraf 32 Absatz 7 nicht durchgeführt werden. Im Übrigen bleiben die für den Geschäftsgang von Sitzungen des Kreistags geltenden Regelungen unberührt.

Der fast wortgleiche Passus für die Regelung der Gemeinderäte findet sich unter dem Paragrafen 37a der Gemeindeordnung.

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Erstellt:
23. Oktober 2020, 06:00 Uhr

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Achtung: Diese Aufnahme stammt nicht aus Bartenbach, sondern ist ein Symbolfoto. Jene Fotos, die am Mittwoch im Sulzbacher Teilort aufgenommen worden sind, wurden bisher nirgendwo veröffentlicht. Sie werden erst noch von Experten überprüft. Quelle: FVA Baden-Württemberg
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