Demonstration wird zum „Spaziergang“

Weil fast keiner der Teilnehmer an der Coronademonstration eine Maske trägt, untersagen Stadt und Polizei den Protestzug durch Backnang. Initiator Schieszl beendet daraufhin die Versammlung und empfiehlt einen Spaziergang. Das machen etwa 300 Bürger.

Mit einem Sarg voraus zogen gestern etwa 300 Bürger durch die Innenstadt und demonstrierten gegen die angebliche Beschneidung ihrer Grundrechte. Fotos: J. Fiedler

© Jörg Fiedler

Mit einem Sarg voraus zogen gestern etwa 300 Bürger durch die Innenstadt und demonstrierten gegen die angebliche Beschneidung ihrer Grundrechte. Fotos: J. Fiedler

Von Matthias Nothstein

BACKNANG. Den Aufruf zu einer Demonstration gegen die Coronaauflagen und besonders gegen die Maskenpflicht haben gestern etwa 300 Menschen wahrgenommen. Kurz vor 14 Uhr strömten von allen Seiten Auflagengegner auf die Backnanger Bleichwiese. Genehmigt war die Kundgebung für maximal 200 Personen, gekommen sind laut offizieller Zählweise der Polizei etwa 250 bis 270 Demonstranten. Vielleicht mögen es auch etwa 300 gewesen sein, die Zählung ist schwierig, weil auch viele Passanten in der Stadt unterwegs waren.

Die Polizei und die Leiterin des Rechts- und Ordnungsamts, Gisela Blumer, machten dem Initiator Michael Schieszl gegenüber von vornherein deutlich, dass es aber nicht nur darum ging, dass die Anzahl der Demonstranten nicht überschritten werden darf, sondern dass jeder Teilnehmer des Protestzugs auch eine Maske tragen müsse.

Polizei war anfangs mit zwei Streifen und vier Mann im Einsatz.

Innerhalb weniger Minuten war den Ordnungshütern jedoch klar, dass an diesem Tag Recht und Ordnung im Sinne der Coronaverordnung in der Backnanger Innenstadt nicht durchgesetzt werden können. Die Polizei war zu Beginn der Demo mit exakt zwei Streifen und vier Beamten vor Ort. Später wurde Verstärkung etwa aus Schorndorf angefordert, dann waren es neun Streifen. Aber da war die Veranstaltung schon fast Geschichte.

Anfangs appellierte Veranstaltungsleiter Schieszl noch über Megafon, die Regeln zu beachten. Doch nicht einmal die neun Ordner, die laut Demonstrationsauflagen nötig waren, trugen Masken. Drei präsentierten der Polizei mehr oder weniger vertrauenswürdige Atteste, dass sie von der Maskenpflicht befreit seien, eine weitere hatte sich als dekorativen Mund- und Nasenschutz ein Stück eines Spitzenvorhangs vors Gesicht gehängt.

Angesichts dieser Umstände und weil sich der Veranstaltungsinitiator nicht durchsetzen konnte, verweigerten die Vertreter der Stadt und der Polizei den Zug durch die Innenstadt. Dies gab Schieszl den Demonstranten bekannt. Er erklärte die Versammlung auf der einen Seite für beendet, empfahl den Teilnehmer aber gleichzeitig angesichts des „schönen Wetters“ einen Spaziergang in der schönen Innenstadt.

Die Teilnehmer verstanden die wenig verschlüsselte Botschaft und machten sich nach dem „offiziellen Ende der Veranstaltung“ auf den Weg. Erst über die Sulzbacher Brücke, dann durch den Graben und die Schillerstraße, einmal durch die Fußgängerzone zurück und über die Marktstraße wieder hoch zum Stiftshof. Vorneweg holperte ein Sarg auf einem Transportwagen über das Kopfsteinpflaster, dahinter die vereinten „Spaziergänger“. Anfangs tatsächlich mit ein wenig Abstand, am Ende dicht an dicht. Masken trug nahezu keiner. Oder Masken der provokanten Art, zum Beispiel mit einem Loch, in dem eine Trillerpfeife steckte.

Obwohl es laut Deklaration keine Demonstration mehr war, skandierten die Spaziergänger. Etwa: „Wir sind viele, wir sind laut, weil ihr uns die Freiheit klaut.“ Oder: „Angela, dein Volk ist hier.“ Unbeteiligte Passanten, die Maske trugen, wurden als „Faschisten“ tituliert. Oder sie bekamen von einem Teilnehmer mit erhobener Faust zu hören: „Aufwachen. Die Maske runter, die bringt eh nichts.“

Ordnungsamtsleiterin Gisela Blumer erklärte gestern Abend auf Nachfrage: „Wir werden prüfen, inwieweit es sich um eine unzulässige Ansammlung gehandelt hat. Die Ermittlungen laufen.“ Angesichts des ungleichen Kräfteverhältnisses zeigte sie auch Verständnis für die extrem defensive Polizeitaktik. „Die Polizei hat Situationsaufnahmen vorgenommen und wird diese nun auswerten.“

„Frieden, Freiheit, keine Diktatur“. Die Demonstranten sehen die Grundrechte gefährdet.

© Jörg Fiedler

„Frieden, Freiheit, keine Diktatur“. Die Demonstranten sehen die Grundrechte gefährdet.

Kommentar
Armutszeugnis

Von Matthias Nothstein

Gestern haben alle verloren. Alle – das sind die Demonstranten, die Ordnungshüter und alle Bürger.

Vorneweg die Teilnehmer, die vorgeben, die Demokratie sei gefährdet und ihre Freiheit beschnitten. Und die trotz ständig steigender Infektionszahlen keine Einsicht zeigen, den befristeten Lockdown mitzutragen. Die wenigsten Teilnehmer der Demo erweckten den Eindruck, dass sie etwa extrem wirtschaftlich oder existenziell unter den Maßnahmen leiden. Dass sie etwa Wirte oder Ladenbesitzer sind, die um ihre Existenz fürchten müssen. Vielmehr konnte man den Eindruck gewinnen, ein Großteil der Demonstranten hatte Spaß an der Situation. Gestern war es ein „nettes Event bei Sonnenschein“. Die Polizei wurde provoziert und ein Stück weit der Lächerlichkeit preisgegeben. Einige Demonstranten zogen Vergleiche mit dem Faschismus des Dritten Reichs. Das ist einfach lächerlich.

Ein Armutszeugnis ist die Aktion auch für die Polizei, die angesichts der Masse einfach einknickte und nur noch beobachtete. Die Demonstranten tanzten mit ihren Witzmasken den Ordnungshütern regelrecht auf der Nase herum. Und das kleine Häufchen Polizei musste tatenlos zuschauen. Es bleibt nur zu hoffen, dass die frechen Provokationen noch Konsequenzen haben werden, die teuer sind. Denn die Unverbesserlichen kann man nur über den Geldbeutel treffen.

Und die Bürger haben verloren. Denn solche Veranstaltungen führen die Bestrebungen, die Seuche eindämmen zu können, ad absurdum.

m.nothstein@bkz.de

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Erstellt:
9. November 2020, 06:00 Uhr

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