Pädophilen-Prozess in Vannes
Der Angeklagte gesteht, die Opfer sind zornig
In der Bretagne endet der Monsterprozess gegen einen Arzt, der 300 Kinder unter Narkose vergewaltigt hat. Ein Opfer fordert den Pädophilen im Zeugenstand heraus

© AFP/B. Peyrucq
Der geständige Angeklagte Joël Le Scouarnec: Der Gerichtszeichner hat seine verschiedenen Gesichter in einer Skizze eingefangen.
Von Stefan Brändle
Jahrelang hatte Amélie Lévêque auf diesen Moment gewartet. „Dieser Mann hatte mich nach meiner Blinddarmoperation im Krankenhausbett vergewaltigt, als ich neun war“, sagt sie mit beherrschter Stimme. „Jetzt, 34 Jahre später, als ich ihn vor Gericht zum ersten Mal wieder sah, hatte ich Mühe, ihm ins Gesicht zu sagen, was ich mir vorgenommen hatte.“
„Dieser Mann“, wie ihn Amélie Lévêque nennt, ist vielleicht der schlimmste Kinderschänder Frankreichs. Er heißt Joël Le Scouarnec und war über die Bretagne hinaus als Bauch- und Darmchirurg angesehen, Spezialität: Kinder. Heute ist er 74 und angeklagt, unter Narkose 299 Minderjährige im Durchschnittsalter von elf Jahren sexuell missbraucht und vergewaltigt zu haben.
Die Opfer leiden bis heute
Ein Gericht in der charmanten bretonischen Kleinstadt Vannes verhandelt seit gut drei Monaten diesen unvorstellbaren Fall, bei dem Le Scouarnec lebenslängliche Haft droht. Der Hauptsaal ist zu klein für alle Beteiligten, die Verhandlung muss in zwei weitere Theaterräume übertragen werden. Die Opfer lösen sich seit Wochen im Zeugenstand ab. Neun von zehn der heute erwachsenen Nebenkläger haben keine Erinnerung, da sie während der Gewalttat betäubt waren. Aber alle leiden an ihrer Seele.
Amélie Lévêque ertrug nach ihrer Operation keine Berührungen, keine Arztspritzen mehr. Sie wurde als Teenager magersüchtig, hielt es zuhause nicht mehr allein aus. Oft brach sie ohne ersichtlichen Grund in Tränen aus. „Meine Freundinnen und meine Familie verdrehten die Augen und sagten, ich sei eine Heulsuse“, erinnert sich die adrette Frau mit blonden Haaren und einer feinen Rundbrille.
Ärzteschaft deckte den Chirurgen
Dann, als sie 18 war und am Küchentisch die Zeitung durchblätterte, fühlte sie sich plötzlich wie vom Blitz getroffen. Das Lokalblatt berichtete erstmals über einen Chirurgen, der in der Klinik La Fontaine der Stadt Loches pädophiler Akte verdächtigt wurde. Der Name des Arztes sagte Amélie nichts, und doch war ihr nun alles klar. „Es war, wie wenn man ein Puzzle zusammensetzt – mit einem Mal stimmt alles zusammen“, sagt die heutige Gemeindeangestellte. Sie rief ihre Eltern an, und die erkundigten sich, wer Amélie 1991 operiert hatte. Sein Name lautete in der Tat Le Scouarnec.
Ein Wort genügt ihr nun als Erklärung für ihre Phobien und Ängste: Vergewaltigung. Die junge Frau begann eine langjährige Traumatherapie. 2019, zehn Jahre später, als sie bereits zwei Kinder hatte, erhielt sie einen Anruf von der Polizei. Die teilte ihr mit, ihr Name figuriere in den Heften, die man im Haus Le Scouarnecs gefunden habe. Dort hatte der perverse Mediziner seine Schandtaten fein säuberlich notiert. „Von mir fand sich nur ein Satz von seinem ‚Blick auf ein nacktes Mädchen‘“, erzählt Amélie Lévêque. „Aber ich spürte, ich war mir sicher, dass er mich nicht nur angeschaut, sondern vergewaltigt hatte.“ Die Ermittlungen dauerten sieben Jahre. Die Ärztegilde der Bretagne, die vor Le Scouarnecs Treiben die Augen verschloss, hatte es auch nicht eilig.
Die Zeugin bot ihrem Peiniger die Stirn
Beim Prozessbeginn im Februar gab Le Scouarnec alles zu. Es war ein Déjà-Vu des Pelicot-Prozesses vom Jahr davor: Auch Dominique Pelicot hatte in Avignon gestanden, seine Frau Gisèle betäubt und anderen Männern zum Missbrauch überlassen zu haben.
In Vannes wurde Amélie Lévêque im März in den Zeugenstand gerufen. Vor einem mehrhundertköpfigen Publikum bot sie ihrem Peiniger die Stirn, voller Angst zwar – „ich war wie in Trance“ –, aber mit letzter, durch die Jahre gereiften Bestimmtheit. Sie wandte sich an den Angeklagten unweit von ihr und forderte ihn auf: „Geben Sie zu, dass Sie mich vergewaltigt haben! Geben Sie es zu, und geben Sie mir damit mein Leben zurück.“ Im Saal herrschte Stille, bis Le Scouarnec mit hohler Stimme sagte: „Ich streite es nicht mehr ab. Ich ermesse die Not und die Verheerung, die ich Ihnen zugefügt habe.“ Die Angesprochene verließ den Saal, fiel ihrer Familie in die Arme.
Opfer demonstrierten vor dem Gerichtsgebäude
Amélie Lévêque hat einige der Überlebenden kennengelernt. Sie seien alle verbittert über die Ärzteschaft, die Le Scouarnec gedeckt habe, obwohl sie informiert war, dass ihn ein Gericht wegen Pädophilie verurteilt hatte. Die regionale Ärztekammer hatte mit elf Stimmen bei einer Enthaltung beschlossen, den Kinderschänder auf seinem Posten zu belassen. „Meine Erfahrung ist, dass die Ärzte im Konfliktfall nicht die Patienten schützen, sondern ihre Berufskollegen“, sagte Lévêque.
Dass ein älterer Zeuge der Verteidigung den Fall als bloße „Hosenlatz-Geschichten“ abtat, schmerzt sie, erstaunt sie aber nicht. „Das sind Kommentare aus einer anderen Zeit. Nehmen Sie die MeToo-Bewegung: Immer mehr Gewaltopfer brechen das Schweigen. Wie Gisèle Pelicot sagte: ‚Die Scham muss die Seite wechseln‘. Und das tut sie mehr und mehr.“
Einige Opfer demonstrierten sogar vor dem Gerichtsgebäude in Vannes mit Transparenten „gegen das Schweigen der Ärzte und der Behörden“. Das Prozessurteil soll am 28. Mai ergehen. Die Staatsanwaltschaft fordert eine lebenslange Inhaftierung, da Le Scouarnec gefährlich bleibe.