SPD-Fraktionschef
Der Schiedsrichter: Wie tickt Matthias Miersch?
Matthias Miersch ist als SPD-Fraktionschef einer der mächtigsten Männer des Landes. Wie tickt er? Ein Besuch mit ihm in seiner alten Schule.

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Nüchtern, niedersächsisch: SPD-Fraktionschef Matthias Miersch im Deutschen Bundestag.
Von Tobias Peter
Matthias Miersch ist ein nüchterner Niedersachse – und mit der Gestik sparsam. Dort, wo er herkommt, reißt man die Arme zum Jubeln nicht ruckhaft nach oben, sondern nimmt sie bedächtig halbhoch.
Doch jetzt ist der SPD-Fraktionschef mit vollem Körpereinsatz dabei. Er öffnet die Arme immer wieder weit, wenn er spricht – fast so, als wollte er sein Publikum am liebsten umarmen. Und er streckt sich, macht sich selbst besonders groß, als er über die Bedeutung der namentlichen Abstimmung im Bundestag spricht. „Man kann sich nicht einfach unterm Stuhl verstecken“, sagt er. Es gelte, Farbe zu bekennen.
Der 56-Jährige ist zu Gast in der Albert-Einstein-Schule in Laatzen südlich der Landeshauptstadt Hannover, dort hat er selbst Abitur gemacht. Im Plenum der Gesamtschule sind 14- bis 17-Jährige versammelt, die Miersch Fragen stellen – auch Schüler aus dem Gymnasium in der Stadt sind dabei. Wie er den Krieg in Gaza sieht, zum Beispiel. Oder ob er helfen könne, dass Visa für Klassenreisen nach England wieder einfacher vergeben werden. Und dann fragt auch jemand, warum das Thema Klimaschutz so in den Hintergrund gerückt sei.
Der Einzelne – und die großen Fragen
Miersch nutzt die Chance. Er will möglichst viel Leben in die Veranstaltung bringen. Und er will den Jugendlichen vermitteln: Die großen politischen Fragen haben auch etwas mit dem Einzelnen zu tun.
Der Mann, der als Abgeordneter des Wahlkreises Hannover-Land II seit dem Jahr 2005 sechs Mal direkt in den Bundestag gewählt wurde, fragt die Schüler, was sie denken: Sollte es auf Autobahnen in Deutschland ein Tempolimit von 130 Kilometern pro Stunde geben?
Es setzt eine kontroverse Debatte ein. „Ich glaube, es gibt viele Leute, denen es Spaß macht, schnell zu fahren“, sagt ein Schüler. Warum solle man es denen verbieten? „Weil ein Tempolimit Unfälle verhindern könnte und auch das Klima schützt“, antwortet einer. „Es gibt keinen Grund außer Egoismus, so schnell Auto fahren zu wollen“, sagt er. Eine Schülerin widerspricht: „Das ist eine Frage der Freiheit, schnell fahren zu dürfen.“ Miersch lässt die Debatte weitgehend laufen. Er greift aber einmal ein, als der eine den anderen nicht ausreden lassen will.
Seit Mai ist Matthias Miersch SPD-Fraktionschef. Er ist damit in Zeiten der schwarz-roten Koalition einer der mächtigsten Männer im Land. Doch obwohl er in der SPD-Fraktion schon seit Jahren gewaltigen Einfluss hat, kennen ihn viele Menschen im Land bislang kaum. Wer ist der Mann, der als enger Vertrauter von Lars Klingbeil gilt? Wie tickt er?
Wer das verstehen will, besucht Miersch tatsächlich am besten in seiner Heimatstadt Laatzen. Der begleitet ihn in seine alte Schule, die ihn sehr geprägt hat. Und durch seinen Wahlkreis, in dem es große Unterschiede zwischen Stadt und Land gibt. Aber überall dieselbe niedersächsische Nüchternheit.
Reichlich Beton in Laatzen
Laatzen dürfte, wenn überhaupt, den meisten durch den Bahnhof Hannover Messe/Laatzen ein Begriff sein. Die Stadt hat gut 40 000 Einwohner. In einigen Stadtteilen sieht es dörflich aus. In der Innenstadt, wo Miersch aufgewachsen ist, ist reichlich Beton zu sehen.
Der Politiker hat eine Zwillingsschwester. Die sei drei Minuten vor ihm geboren und deshalb bis heute der Meinung, ihn beschützen zu müssen, erzählt er. Sein Vater hat in der Jugendgerichtshilfe gearbeitet, seine Mutter war Sozialarbeiterin.
In Laatzen gab es zwei Vereine, in denen Jugendliche Fußball spielen konnten: einen für diejenigen, die es besonders gut konnten. Und einen, in dem alle anderen spielten: quer durch alle Schichten, mit und ohne Migrationshintergrund. Hier stand Miersch im Tor. Und entdeckte dann, dass er sich noch lieber als Schiedsrichter betätigt. Gepfiffen hat er bis auf Bezirksliganiveau, ein zeitintensives Hobby – und sich dann später für die Kommunalpolitik entschieden.
Die Schule war wichtig für Miersch. Er steht zwischen verschiedenen Gebäuden auf dem Hof in der Mittagshitze und erzählt: „Die Schüler der Oberstufe waren, als ich Abitur gemacht habe, im Gebäude der Sonderschule untergebracht.“ Der heutige Schuldirektor der Gesamtschule, der über das Gelände führt, will korrigieren: „Förderschule“, sagt er. „Damals hieß es tatsächlich Sonderschule“, sagt Miersch. Er erzählt, dass es damals gemeinsamen Sportunterricht gegeben habe.
Von den Jugendfreizeiten zur Politik
„Das ist hier gelehrt worden: die Empathie für den anderen“, sagt der SPD-Fraktionschef. Dass man, auch wenn man sehr unterschiedlich sei, gemeinsam in der Gruppe etwas erreichen könne. Der Direktor hat das Jahrgangsfoto von 1988, dem Abiturjahr des Politikers, mitgebracht. Es zeigt einen zurückhaltend lächelnden Matthias Miersch in Lederjacke – mit langen, blonden Haaren.
Die Politisierung erfolgte aus unmittelbarer Lebenserfahrung. Der evangelische Miersch engagierte sich beim Christlichen Verein Junger Menschen, dem CVJM, half Jugendfreizeiten zu organisieren. Plötzlich fielen Fördergelder weg. Er organisierte eine Demo. Es folgten der Eintritt in die SPD und die Kandidatur für den Rat.
Ein zäher Verhandler, einer, der umgänglich sei, aber sich auch in die Details festbeiße, so beschreiben politische Weggefährten aus der Kommunalpolitik in Laatzen Miersch. Der Sozialdemokrat kommt aus der Fachpolitik, sein Herzensthema ist die Umwelt. Dass lässt sich beobachten, als er in seinem Wahlkreis in Uetze-Schwüblingsen einen Landwirt besucht, der an einen Feldversuch zum Thema Wasserschutz teilnimmt. Miersch fragt auf dem Acker in brütender Hitze genau nach, welche Früchte in welcher Reihenfolge angebaut werden – und was das für den Einsatz von Düngemitteln bedeutet.
Der große Druck auf Union und SPD
Ist er zu sehr Fachpolitiker, zu sehr Nerd? Spricht er zu sperrig? Ist Miersch zu nachsichtig gegenüber Unionsfraktionschef Jens Spahn? Das fragen sich manche in der Fraktion. Miersch hat im Streit über die geplatzte Wahl von Frauke Brosius-Gersdorf als Verfassungsrichterin klar Stellung bezogen. Doch er war nicht der lauteste. Das hat mit seinem Stil zu tun. Aber auch damit, dass er Union und SPD unter großem Druck sieht, gemeinsam etwas zu erreichen – damit die AfD nicht noch stärker wird.
An diesem Tag in der Albert-Einstein-Schule in Laatzen sprechen die Jugendlichen sich in einer Abstimmung zum Schluss mit großer Mehrheit gegen ein Tempolimit auf Autobahnen aus. Das kenne er, sagt Miersch, der seit langem für eine solche Regelung kämpft. Das sei seit einiger Zeit bei den meisten Veranstaltungen mit Schülern so, berichtet der Niedersachse. Er freue sich, wenn einige ins Nachdenken kämen und im Nachhinein weiter diskutierten.
Miersch stemmt die Hände in die Hüften. Nur, weil etwas gerade nicht en vogue sei, dürfe man nicht gleich aufgeben, sagt er. Das beschreibt auch gut seinen Job in der SPD.