Der schwarze Besenstiel gewinnt keine Wahl mehr

Leben auf dem Land Progressive Städter, konservative Landbevölkerung – dieses Klischee aus früheren Zeiten stimmt heute nicht mehr. Auch im ländlichen Raum lässt die Bindung an bestimmte Parteien nach. Einige Unterschiede im Wahlverhalten bestehen allerdings noch immer.

Der ländliche Raum ist für die CDU keine sichere Bank mehr. Unser Foto zeigt die Bundestagsabgeordnete Inge Gräßle zusammen mit Landwirtschaftsminister Peter Hauk (Mitte) und Murrhardts Bürgermeister Armin Mößner (links) beim Besuch des Hofs von Harald Wurst (rechts) in Hinterwestermurr. Im Hintergrund der Vorsitzende des Bauernverbands Jürgen Maurer. Archivfoto: J. Fiedler

© Jörg Fiedler

Der ländliche Raum ist für die CDU keine sichere Bank mehr. Unser Foto zeigt die Bundestagsabgeordnete Inge Gräßle zusammen mit Landwirtschaftsminister Peter Hauk (Mitte) und Murrhardts Bürgermeister Armin Mößner (links) beim Besuch des Hofs von Harald Wurst (rechts) in Hinterwestermurr. Im Hintergrund der Vorsitzende des Bauernverbands Jürgen Maurer. Archivfoto: J. Fiedler

Von Kornelius Fritz

Rems-Murr. Die Geschichte vom Besenstiel hält sich hartnäckig. Den, so erzählten es Politiker von SPD und Grünen früher gerne, müsse man nur schwarz anmalen und zur Wahl aufstellen, dann sei ihm die Stimmenmehrheit in den ländlichen Wahlkreisen des Landes sicher. Aus den Worten klang die Verbitterung über eine lange Serie von Wahlniederlagen gegen die CDU bei Landtags- und Bundestagswahlen. Ihre Erfolge in Baden-Württemberg hatten die Christdemokraten dabei vor allem ihrem guten Abschneiden auf dem Land zu verdanken. Und so hält sich bis heute landläufig die Meinung, dass in ländlichen Regionen eher konservativ bis rechts gewählt wird, während in den Städten Liberale und Linke mehr punkten können. Aber stimmt diese Einschätzung heute noch?

Die Konrad-Adenauer-Stiftung hat diese Frage im Jahr 2018 in einer groß angelegten Studie untersucht. Mehr als 5000 Personen aus ganz Deutschland wurden dafür telefonisch zu ihren politischen Einstellungen und ihrem Wahlverhalten befragt. Dabei kam heraus, dass Städter und Landbewohner so unterschiedlich gar nicht ticken: „Es gibt gewisse Unterschiede, diese sind aber eher gering ausgeprägt“, sagt die Soziologin Sabine Pokorny, die die Studie verfasst hat.

Wahlveranstaltungen im Dorfgasthof ziehen heute nicht mehr

Zwar ist der Anteil derjenigen, die sich vorstellen können, die CDU zu wählen, auf dem Land tatsächlich etwas höher als in der Stadt, während umgekehrt die SPD in Städten mehr Rückhalt hat. Schon bei Grünen und FDP ließ sich allerdings kein Unterschied zwischen Städtern und Landbevölkerung nachweisen. Im Übrigen müsse man aufpassen, dass man verschiedene Ursachen nicht miteinander verwechselt, erklärt Pokorny. So müsse man zum Beispiel berücksichtigen, dass die Bevölkerung in großen Städten im Schnitt etwas jünger und auch besser gebildet ist als in ländlichen Regionen. Auch das sind Faktoren, die Einfluss auf das Wahlverhalten haben.

Der Backnanger SPD-Landtagsabgeordnete Gernot Gruber hat das Gefühl, dass Parteibindungen auch im ländlichen Raum zunehmend schwinden: „Früher haben die katholischen Kirchgänger auf dem Land CDU gewählt und die Arbeiter in der Stadt SPD. Das gilt heute nicht mehr so“, sagt er. Der SPD-Abgeordnete hat den Eindruck, dass anstelle der Parteizugehörigkeit Personen eine immer wichtigere Rolle spielen. Dies zeige sich etwa an den Wahlerfolgen der Grünen im Land, an denen Ministerpräsident Winfried Kretschmann einen großen Anteil habe. Auch Gruber selbst hat schon bewiesen, dass persönlicher Einsatz von den Wählerinnen und Wählern durchaus honoriert wird: Bei der letzten Landtagswahl holte er im Wahlkreis Backnang
19 Prozent der Stimmen, die SPD kam im Landesschnitt nur auf elf Prozent.

Auch die Backnanger CDU-Bundestagsabgeordnete Inge Gräßle glaubt nicht an die „Besenstieltheorie“. „Der Wähler macht keine Geschenke – Gott sei Dank“, sagt die Politikerin, die selbst in einem Dorf mit 900 Einwohnern aufgewachsen ist. Die überdurchschnittlichen CDU-Ergebnisse auf dem Land erklärt sie damit, dass es früher auch in kleinen Gemeinden oft Meinungsbildner mit CDU-Parteibuch gegeben habe. Allerdings gebe es inzwischen immer weniger von diesen „Leuchttürmen vor Ort“.

Für sie als Abgeordnete werde es dadurch auch immer schwieriger, die Wählerinnen und Wähler zu erreichen. Die Zeiten, als die Menschen in Scharen in den Dorfgasthof strömten, wenn ein Abgeordneter zum politischen Frühschoppen einlud, sind jedenfalls lange vorbei. Als Gräßle vor der Bundestagswahl 2021 den baden-württembergischen Innenminister Thomas Strobl nach Spiegelberg einlud, verloren sich bei dessen Vortrag gerade mal 20 Besucher im örtlichen Feuerwehrhaus.

Nach der letzten Landtagswahl hat das Statistische Landesamt die Wahlergebnisse in Baden-Württemberg auch nach Größe der Kommunen aufgeschlüsselt. Dabei zeigen sich zwischen großen Städten und kleinen Gemeinden zwar Unterschiede, aber auch Gemeinsamkeiten. So waren die Grünen unabhängig von der Ortsgröße überall stärkste Partei, gefolgt von der CDU. Unterschiedlich war lediglich der Abstand zwischen den beiden Parteien, der in Großstädten mit mehr als 100000 Einwohnern 19 Prozentpunkte betrug, in kleinen Gemeinden mit weniger als 10000 Einwohnern hingegen nur drei Prozentpunkte. Auch im Wahlkreis Backnang ist Ralf Nentwich etwas gelungen, was vor einigen Jahren noch undenkbar schien: Der Grünen-Kandidat luchste der CDU das Direktmandat ab. Nentwich glaubt, dass es auf dem Land sogar eine große Offenheit für grüne Politik gibt. Schließlich beträfen Themen wie Naturschutz oder der Ausbau von Wind- und Solarenergie die Landbewohner oft viel direkter als die Städter. Wichtig sei aber, nicht einfach Konzepte aus der Stadt auf die Dörfer zu übertragen, sondern passende Lösungen vor Ort zu entwickeln. Als Beispiel nennt Nentwich das Thema Carsharing: „In der Stadt braucht man kleine Autos, auf dem Land vielleicht eher einen VW-Bus.“ Und man müsse als Politiker auch akzeptieren, dass etwa Diversität und Gendern für die Landbevölkerung nicht zu den allerdrängendsten Problemen gehören.

AfD-Hochburg Spiegelberg: Der Bürgermeister hat keine Erklärung

Die Auswertung des Statistischen Landesamts zeigt auch, dass die AfD umso besser abgeschnitten hat, je kleiner die Gemeinden sind. Diese Tendenz sei bundesweit erkennbar, sagt Sabine Pokorny. Rechtspopulistische Einstellungen sind laut Studie der Adenauer-Stiftung auf dem Land etwas häufiger zu finden als in Städten. Wobei auch diese Aussage nicht in allen Fällen zutrifft: So zählt etwa die Stadt Pforzheim zu den AfD-Hochburgen im Land.

Im Wahlkreis Backnang erzielt die AfD ihre besten Ergebnisse stets in Spiegelberg und Großerlach. In Spiegelberg war sie bei der Landtagswahl 2016 mit 26,6 Prozent sogar stärkste Partei. Warum das so ist, kann sich allerdings auch der Bürgermeister Uwe Bossert nicht erklären. Vermutlich sei es eine Protesthaltung, die da zum Ausdruck komme, doch wogegen sich der Protest richte, sei ihm nicht klar. „Womit soll man bei uns unzufrieden sein?“, fragt Bossert. Von ÖPNV bis Breitbandanbindung habe sich zuletzt vieles im Ort verbessert, auch die Abgeordneten schauten regelmäßig in der Gemeinde vorbei. „Niemand kann behaupten, dass sich die Politiker nicht um Spiegelberg kümmern würden.“

In der Serie „Leben auf dem Land“ beleuchten wir verschiedene Aspekte des dörflichen Lebens in unserer Region genauer.

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Erstellt:
19. März 2022, 06:00 Uhr

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