Die Energiedebatte

Die DFB-Elf will in Stuttgart im Spiel um Platz drei gegen Frankreich den Beweis antreten, dass sie Topnationen besiegen kann. Dafür braucht sie bei der Nations League jeden Spieler auf höchstem Niveau – doch wie ist das zu schaffen?

Die deutsche Nationalmannschaft will wenigstens Platz drei in der Nations League erreichen.

© IMAGO/Jan Huebner

Die deutsche Nationalmannschaft will wenigstens Platz drei in der Nations League erreichen.

Von Carlos Ubina

Herzogenaurach - Julian Nagelsmann neigt nicht gerade dazu, ängstlich zu sein. Der Bundestrainer ist vielmehr ein Typ, der gerne angreift. Verbal und mit seinen Mannschaften auf dem Platz. Zum einen hat der 37-Jährige schon nach dem Viertelfinal-Aus bei der EM im Vorjahr betont, dass es ab sofort nur ein Ziel geben könnte, den Gewinn des Weltmeistertitels 2026. Zum anderen richtet er die Auswahl des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) seit Monaten genau darauf aus.

Personell mit einem Kader, der gut genug für höheren Aufgaben sein soll, der zudem aber auch gruppendynamische Prozesse und Rollen berücksichtigt. Bisher ging das Konzept auf. Die Mannschaft wurde stärker und auch stark geredet. Sie trat gewachsen sowie leidenschaftlich auf und überdeckte mit ihrer Geschlossenheit und Mentalität fußballerische Schwächen. Die Titelreife schien für die Öffentlichkeit nur eine Frage der Zeit zu sein – bis zum verlorenen Halbfinale der Nations League gegen Portugal (1:2).

Plötzlich mehren sich wieder die Zweifel. Im Zentrum der Debatte steht die Kernfrage, was der DFB-Elf im Vergleich zu den europäischen Topnationen fehlt, die bei der Mini-EM auftreten. Außer den Portugiesen boten ja auch die Spanier und Franzosen beim 5:4 in Stuttgart eine Halbfinalbegegnung, die wie eine Ausstellungsmesse des modernen Fußballs wirkte: die besten Offensivspieler, Geschwindigkeit und Jugendlichkeit, Kompaktheit und Spielkontrolle, Esprit und Kombinationsfluss. Und die Deutschen?

„Wenn wir jeden Spieler bei hundert Prozent haben, dann haben wir eine gute Ausgangsposition, um erfolgreich zu sein. Aber wir brauchen jeden Spieler auf diesem Energielevel“, sagt der Nationalstürmer Deniz Undav nach einer eingehenden Spielanalyse des Bundestrainers. Julian Nagelsmann ist überzeugt davon, dass seine Mannschaft einen Tick besser sein kann als die Besten – wenn die volle Leistungskraft auf das Feld gebracht wird.

Das Spiel um Platz drei der Nations League gegen Frankreich am Sonntag (15 Uhr/RTL) wird dabei zeigen, ob das DFB-Team nach dem Rückschlag von München eine schnelle Antwort findet oder ob sich noch mehr Diskussionen anschließen, als nach dem Fehlen zahlreicher potenzieller Schlüsselspieler oder der schwachen Form von Stammkräften wie Jonathan Tah in der Abwehr.

Man mag sich ja nicht vorstellen, wie Tah sich in der gezeigten Verfassung anstellt, wenn Kylian Mbappé auf ihn zustürmt oder Ousmane Dembélé oder Désiré Doué oder Michael Olise. Das Edelquartett des Vizeweltmeisters bietet so viel an Tempo und Technik, dass Verteidiger schon mal die Orientierung verlieren können, wenn sie nicht auf der Höhe sind.

Ohne Antonio Rüdiger mangelt es der deutschen Abwehrreihe zudem an Galligkeit in den Zweikämpfen sowie an Organisation insgesamt. Der gute Robin Koch vermochte das trübe Bild nur ein wenig aufzuhellen. Und bemerkenswert ist auf der anderen Seite, dass der französische Nationalcoach Didier Deschamps über weitere Angriffsalternativen verfügt wie Bradley Barcola und Randal Kolo Muani.

Das Reservoir an Ausnahmekönnern scheint unerschöpflich, da seit Jahren Talente en masse ausgebildet werden. Wie auch auf der iberischen Halbinsel, wo für Spanien nicht nur Lamine Yamal, Nico Williams und Pedri wirbeln und für Portugal nicht nur Vitinha, Pedro Neto und Joao Neves. Dahinter gibt es selbst ohne das verletzte spanische Mittelfeld-Mastermind Rodri noch Spitzenakteure wie Dani Olmo, Fabian, Mikel Merino – und die nächste Generation ist wie in Portugal mit Francisco Conceição schon präsent.

Klar, in Florian Wirtz, Jamal Musiala und Kai Havertz wirbeln beim DFB ebenfalls hochbegabte Künstler, die den Unterschied zwischen Titelgewinn und Trostpreis ausmachen können. Dahinter klafft jedoch eine Lücke, wie die Ausfälle von Musiala und Havertz belegen. Trotz eines Undav, der mit seinem Instinkt ein Mann für bestimmte Momente sein kann.

Dennoch: der Bundestrainer habe da die Qual der Wahl, wenn alle Spieler zur Verfügung stünden, meint der Stuttgarter. Seinen VfB-Kollegen Nick Woltemade rechnet Undav neuerdings dazu. Für die Mittelstürmerposition sieht der 28-Jährige in erster Linie jedoch Tim Kleindienst und Niclas Füllkrug, Woltemade und sich selbst als mögliche Alternativen.

Doch wer bringt den nötigen Schwung über die Außenbahnen, wenn die Mitte dicht ist? Leroy Sané und Serge Gnabry? Ein Münchner Duo, das über alle Fähigkeiten verfügt, die es braucht, um Verteidiger auszuspielen. Fußballerisch können sie also alles – außer Konstanz.

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Erstellt:
6. Juni 2025, 22:10 Uhr
Aktualisiert:
6. Juni 2025, 23:54 Uhr

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