Die Nasegestrichen voll

Beschwerden über Ausfälle und Verspätungen bei Flügen und Bahnfahrten auf Rekordniveau

Heißzeit ist das Wort des Jahres. Das kann man akzeptieren, schließlich war der vergangene Sommer extrem lang und sonnig. Und irgendein Begriff, bei dem sich auch noch über den Klimawandel diskutieren lässt, kann in der öffentlichen Wahrnehmung und Verbreitung nie schaden. Übers Wetter zu reden geht immer.

Ganz früher hat sogar die Deutsche Bahn aufs Wetter gesetzt. Als vertrauensbildende Werbebotschaft. Der eine und die andere erinnert sich vielleicht noch dunkel an die Lokomotive der Baureihe E 10 in einer verschneiten Landschaft. „Alle reden vom Wetter. Wir nicht.“ So hieß der 1966 ausgegebene Slogan, der zu den erfolgreichsten in der Geschichte der Bahn (damals hieß sie noch Bundesbahn) zählt und mehrfach kopiert wurde. Heute müsste man ihn umformulieren. Etwa so: „Alle reden von Pünktlichkeit. Wir nicht.“ Auch der 1968 anlässlich der beginnenden Außerdienststellung der Dampfloks verbreitete Spruch „Unsere Loks gewöhnen sich das Rauchen ab“ ließe sich ein halbes Jahrhundert später leicht wie folgt umformulieren: „Unsere Loks gewöhnen sich das Fahren ab.“

Auch wenn Heißzeit als Wort des Jahres perfekt klingt – im Prinzip hätte es Wartezeit lauten müssen. Denn das flaue Gefühl von Reisenden im öffentlichen Personenverkehr, nicht pünktlich ihr Ziel zu erreichen, nimmt zu. Nur noch getoppt von der nervtötenden Sorge, überhaupt anzukommen. An S-Bahn-Stationen, am Abflug-Gate, auf Bahnsteigen. Längst fährt und fliegt an viel zu vielen Tagen im Jahr der unerschütterliche Konfuzius mit. Für ihn ist der Weg das Ziel – was so viel heißen soll wie: Der Glückliche übt sich in Ausdauer und Geduld. Oder weiter gefasst: Für den Reisenden ist das Warten nicht das Problem, sondern bereits die Lösung.

Dabei ist der Geduldszug für immer mehr Kunden längst abgefahren. Jeden Tag gehen bei der Schlichtungsstelle für den öffentlichen Personennahverkehr im Schnitt 88 Beschwerden ein. In diesem Jahr werden bei der SÖP rund 32 000 Schlichtungsanträge eintreffen – doppelt so viele wie im Vorjahr. Mehr als 26 000 davon entfallen auf Flugreisen. Denn die Airlines haben in Sachen Unberechenbarkeit die Bahn längst abgehängt.

Natürlich spielen viele Faktoren eine Rolle, wenn ein planmäßiger Verkehr in großem Stil nicht mehr gewährleistet werden kann: provokante und ausufernde Streiks hier wie dort, Engpässe bei den Flugsicherungen, personelle Engpässe bei den Passagierkontrollen und eine Häufung von Unwettern­. Aber das ist es eben nicht allein: Bei der Bahn kommen hausgemachte Störungen­ bei Zügen und ein vernachlässigtes Schienennetz hinzu. Bei Billig-Fliegern wie Eurowings scheitert man an zu schnellem Wachstum und überfordernden Flugplänen.

Gestrichene Verbindungen gehören längst zum Alltag. Und der Kunde? Er hat die Nase gestrichen voll. Dass Bahn und Fluglinien seine Nöte wirklich ernst nehmen, kann er nicht glauben. Und so bleibt ihm nichts anderes übrig, als auf eine bessere finanzielle Entschädigung bei Verspätungen und Ausfällen zu pochen. Das wäre durch ein automatisiertes Verfahren technisch problemlos machbar. Wenn Flüge und Züge online gebucht werden können, muss Schluss damit sein, eine Entschädigung schriftlich auf komplizierten Formularen zu beantragen. Was in der Regel nichts anderes heißt, als wochenlang seinen Ansprüchen hinterherzulaufen oder nach Kontakt mit der Servicehotline frühzeitig zu resignieren. Wenn Kunden schon genervt warten müssen, dann wenigstens nicht auf einen schnellen finanziellen Ausgleich.

wolfgang.molitor@stuttgarter-nachrichten.de

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Erstellt:
15. Dezember 2018, 03:12 Uhr

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