Die Verpflichtung

Die Polizei im Rems-Murr-Kreis hat am 11. März 2009 die schwerste Herausforderung ihrer Geschichte gemeistert

Es klingt so widersinnig, dass man sich scheut, es zu schreiben, und doch ist es wahr: Der 11. März 2009 war auch ein Tag, an dem viele Menschen gerettet wurden. Für die Polizei, sagt der Backnanger Ralf Michelfelder, kam er „überraschend, aber nicht unvorbereitet“ – sie hatte mehr als zwei Jahre lang dafür trainiert.

Am Tag danach, von Presse, Mikros, Kameras umstellt: Ralf Michelfelder, damals Leiter der Polizeidirektion Waiblingen, am 12. März 2009. Foto: B. Büttner

© Buettner

Am Tag danach, von Presse, Mikros, Kameras umstellt: Ralf Michelfelder, damals Leiter der Polizeidirektion Waiblingen, am 12. März 2009. Foto: B. Büttner

Von Peter Schwarz

WINNENDEN. Am Tag des Amoklaufs von Winnenden und Wendlingen hat die Polizei im Rems-Murr-Kreis die schwerste Herausforderung ihrer Geschichte gemeistert. Sie konnte dies, weil sie nicht unvorbereitet war und aus den Verbrechen der Vergangenheit gelernt hat.

Littleton (USA), 1999: Am 20. April um 11.23 Uhr geht der Notruf ein, Schüsse an der Columbine High School, die ersten eintreffenden Streifenpolizisten umstellen die Schule, um 12.06 Uhr betreten Spezialteams das Gebäude; 43 Minuten später. Sie finden zwei tote Amoktäter, die 21 Menschen verletzt, 13 ermordet und schließlich sich selbst erschossen haben.

Erfurt, 2002: Am 26. April gegen 10.45 Uhr betritt ein Amokschütze das Gutenberggymnasium. Etwa 20 Minuten lang schießt er, bringt 16 Menschen um und schließlich sich selbst. Danach dringt die Polizei ins Gebäude vor.

Offenburg, 2006: Zwei Jungen fällt beim Counter-Strike-Daddeln ein Online-Mitspieler auf – er droht, er werde am Nikolaustag Amok laufen. Die beiden informieren die Polizei. Bald gibt es eine Spur: Eine Schule meldet einen Schüler vermisst. Der Verdächtige wird tot aufgefunden, offenbar hat er sich umgebracht.

Nach diesem Amoklauf, der nicht stattfand, beschlossen Ralf Michelfelder, Leiter der Polizeidirektion Waiblingen, und sein Führungsteam: Wir müssen uns vorbereiten auf den nächsten, der stattfinden wird, und wir müssen die Lehren ziehen aus Columbine und Erfurt. Die Polizisten dort hatten sich verhalten, wie die Einsatzpläne es lehrten: Die ersten Streifen sicherten das Umfeld und warteten auf die Spezialkräfte. Aber reicht das? Wenn ein Schwerbewaffneter mit Unmengen Munition eine Schule heimsucht, muss man ihn stoppen. Sofort. Deshalb absolvierte jeder einzelne Polizist, jede einzelne Polizistin im gesamten Rems-Murr-Kreis – von der Führungsspitze bis zum Berufsanfänger, von den Verkehrskräften bis zur Kripo – ein 40-stündiges Spezialtraining für solch eine Situation. Es gab vereinzelte Einwände: Dass bei uns so was passiert, hieß es, ist doch unwahrscheinlicher als ein Sechser im Lotto. Mag sein. Aber jede Woche wird jemand Millionär.

Winnenden, 2009: Gegen 9.30 Uhr betritt der Amokläufer die Schule, um 9.33 Uhr geht der erste Notruf ein, kaum fünf Minuten später sind Tobias Obermüller, Thomas Schnepf und Sebastian Wolf, drei ganz normale Streifenbeamte, vor Ort – und betreten umgehend das Gebäude. Sie geben einander Schutz, bewegen sich in einem systematischen Bewegungsmuster, genau wie eingeübt. Von unten an der Treppe sehen sie im ersten Stock schemenhaft eine Gestalt, der Fremde feuert, die Kugel jagt dicht am Kopf eines Beamten vorbei – sie ziehen sich nicht zurück, sondern steigen hoch. So drängen sie den Massenmörder aus dem Gebäude, er flieht durch den Hinterausgang. Von fast 300 Schuss Munition hat er zu diesem Zeitpunkt erst 60 verbraucht. Hätten die drei innegehalten und auf Verstärkung gewartet – „weder rechtlich noch moralisch könnte irgendjemand ihnen einen Vorwurf machen“, sagt Michelfelder. „Man muss ihnen allergrößten Respekt zollen. Es war eine tapfere und selbstlose Meisterleistung.“

Am Morgen des 11. März hatte die Polizei eine Dienstversammlung in Urbach: 350 Leute in der Halle. Peter Hönle, bei der Polizeidirektion Waiblingen Experte für komplexe Großeinsätze, referierte gerade den Planungsstand zum Deutschlandbesuch von Barack Obama im kommenden April, als ein Kollege bleich wie die Wand hereinkam: Amoklage. Michelfelder trat ans Mikro: alle Anwesenden nach Winnenden, Treffpunkt Wunnebad. Aus allen Himmelsrichtungen strömten dort binnen kurzer Zeit rund 800 Polizisten zusammen. Es galt, die Fahndung zu organisieren, der Massenmörder war ja noch flüchtig: Im weiten Umkreis besetzten Beamte Verkehrsknotenpunkte. Es galt, Entscheidungen zu fällen, und zwar sofort: „Der Bahnverkehr wird eingestellt“, verfügte Michelfelder, „Punkt.“ Könnte das Haftungsfolgen haben? Egal. Es galt, das Chaos zu zähmen: Fehlmeldungen überschlugen sich und mussten doch ausrecherchiert werden – in einem Kindergarten sei auch geschossen worden, im Endersbacher Schulzentrum sei einer mit einem schwarzen Mantel rumgelaufen, am Lessinggymnasium gehe noch einer um, er sei aufs Dach geflüchtet, in Weissach herrsche helle Aufregung. Es galt, schamlose Presseleute einzufangen: Einzelne Journalisten fuhren den Krankenwagen hinterdrein, die Verletzte fortbrachten, Fotografen wollten sich in die Kliniken drängeln. Es galt, den Hinterbliebenen beizustehen: Beamte kümmerten sich um Eltern und ihre erschütternden Fragen – hat mein Kind gelitten? Warum meine Tochter? Eigentlich hätten die Toten obduziert werden müssen, zur detailpräzisen Ermittlung der Todesursache.

Am Abend sprach Michelfelder mit dem zuständigen Oberstaatsanwalt, sie einigten sich: Diese Kinder sind am Morgen aus dem Haus gegangen mit den Worten „bis nachher“, wir müssen sie ihren Familien so schnell wie möglich zurückgeben, wir haben da eine Verpflichtung, der Täter ist tot, was geschehen ist, liegt klar zutage – keine Obduktionen. Und wenn es eine Dienstaufsichtsbeschwerde gibt, dann ist es halt so. In jener Nacht fuhren Kriminaltechniker von Krankenhaus zu Krankenhaus, von Opfer zu Opfer und dokumentierten Wunde um Wunde. Stellt euch darauf ein, sagte Michelfelder seinen Leuten: Derzeit gibt es Lob; bald kommt Tadel, so ist der Mensch. Er wusste, wovon er sprach: Bereits am Abend des Amoklaufs war die erste Anzeige gegen die Polizeiführung eingegangen, wegen „Tötung durch Unterlassen“. Haltlose Vorwürfe kursierten. Am Ende blieb nichts davon übrig.

Die Polizei hat den Amoklauf minutiös ausgewertet. Taktische Workflows wurden weiter verfeinert, Netzwerke und Absprachen vertieft mit Schulen, Feuerwehr, Rettungsdiensten, Ärzten, Kliniken. Dezentrale Bevorratung von Munition; verbesserte Schutzausrüstung, Helm, Plattenträger, Halskrause, Tiefschutz; organisationenübergreifende Übungen mit Landes- und Bundespolizei; detaillierte Einsatzpläne in der Schublade, Schritt für Schritt vordefiniert: lauter Vorbereitungen für den Tag, der hoffentlich nie kommen wird. In jedem Streifenwagen gibt es jetzt ein spezielles Erste-Hilfe-Set – nach der Messerattacke von Plüderhausen im Juli 2018 kam es zum Einsatz: Ein Streifenbeamter legte dem schwer blutenden Familienvater einen vom israelischen Militär entwickelten Druckverband an. Peter Hönle hielt mehr als 100 Fachvorträge nach dem Amoklauf, auch Michelfelder referierte wieder und wieder vor Polizisten über die Winnender Einsatzerfahrungen. „Du merkst, es tut dir nicht gut, wenn du es immer wieder aufwühlst. Aber wir haben uns verpflichtet gesehen, bundesweit die Kollegen zu informieren.“

Viel ist geschehen seit dem 11. März. Aber manchmal fragt sich Hönle: Ist es genug? Die Polizei hat auch heute noch zu wenige Jugendsachbearbeiter, um Gewaltpräventionsprogramme an Schulen auch nur annähernd flächendeckend zu organisieren. Und was ist mit den Kontrollen, um zu sichern, dass Waffenbesitzer Gewehre und Pistolen wirklich im Tresor verwahren? Sicher, in Waffenbehörden wurde Personal aufgestockt, aber warum, verdammt, ist es bei tödlichem Gerät nicht möglich, was beim Auto selbstverständlich ist? Da prüft der Tüv alle zwei Jahre jeden Wagen; geschähe es nicht, fände jeder das grob fahrlässig.

Beim Studieren der Täterprofile von Amokläufern sagt Ralf Michelfelder: „Da ist mir klar geworden – es war so offenkundig: Die gleichen sich alle!“ Es waren nie „die Schreihälse und die Krawallmacher, sondern die Hinterbänkler und Ausgeschlossenen“. Pädagogen in Kalifornien haben ein vorbildliches Konzept entwickelt: Die Lehrerkonferenz trifft sich, an einer Tafel stehen die Namen der Schüler. Wenn ein Lehrer mit einem Namen was verbindet – A geht gern angeln, B spielt Fußball, C hat Schwester in Klasse 7 – heftet er einen Klebepunkt dahinter. Am Ende haben manche Kinder ganze Trauben von Punkten; zwei oder drei haben keinen einzigen. „Um genau die müssen wir uns kümmern.“ Es kann sein, du machst 40 Jahre deinen Polizistenjob: Meist ist es Routine, wie in anderen Berufen auch. Und eines Tages, sagt Peter Hönle, geschehen „Dinge, die du dein Leben lang nicht mehr vergisst“. Manche brauchten Therapien nach dem Amoklauf oder machten Kuren in Traumakliniken, wo sonst Afghanistankämpfer betreut werden. Der eine oder andere musste in vorzeitigen Ruhestand oder ließ sich versetzen. Einer hatte schon „so viele schlimme Sachen erlebt“ und sich für robust gehalten; bis dieser eine Tag das „Fass zum Überlaufen“ brachte. Einer schrieb sich alles von der Seele und sperrte die Seiten in einen Schrank.

Ralf Michelfelder spürte: Du kannst die Bilder nicht löschen, aber du kannst lernen, sie zu zähmen. Er baute sich eine „Schublade im Kopf. In der habe ich alles drin. Ich kann sie aufziehen, ich kann sie aber auch wieder zuschieben. Ohne mein Zutun springt sie nicht auf.“ Viele mussten an ihre Grenzen gehen am 11. März; und manche darüber hinaus. „Wir haben unseren Leuten brutal viel abverlangt“, Michelfelder weiß das. Aber es war nicht anders möglich. „Wir haben einen Beruf mit einer enormen Verpflichtung gegenüber der Gesellschaft.“ Sie sind ihrer Verpflichtung gerecht geworden an diesem schlimmsten Tag.

Die Verpflichtung

© Bernhardt

„Wir haben an diesem Tag

Dinge gesehen, die man

sein Leben lang nicht

mehr vergisst.“

Peter Hönle

Leitender Polizeidirektor

Hintergrund
Das Polizeidesaster von Utøya

Wer ermessen will, wie gut die Polizei in Winnenden gearbeitet hat, muss den Blick weiten. Es gibt einen erschütternd lehrreichen Vergleichsfall. Am 22. Juli 2011 um 15.25 Uhr zündete Anders Breivik in Oslo eine Bombe, acht Menschen starben. Nur zehn Minuten später wendete sich ein Zeuge an einen Polizisten: Er habe einen Verdächtigen gesehen, einen Mann, der zwar Polizeiuniform trug, sich nach der Detonation aber seltsamerweise in ein Privatauto setzte und wegfuhr, als gehe ihn das alles nichts an. Hier, sagte der Zeuge, er habe die Autonummer notiert.

Der Beamte gab die Spur an die Zentrale weiter – dort blieb sie zwei Stunden lang unbeachtet. Ungestört fuhr Breivik zur Ferieninsel Utøya. Gegen 17 Uhr stieg er in die Fähre, um 17.15 Uhr kam er an, um 17.27 Uhr erhielt die Polizei den ersten Notruf von dort. Zwei Polizisten, die bald an der Fährstelle eintrafen, setzten nicht über. Dann kamen Spezialkräfte und wussten nicht, wie weiter. Der einzige verfügbare Polizeihelikopter konnte nicht eingesetzt werden, die Crew war in Urlaub. Auf die Idee, sich einen Hubschrauber von Rettungsdiensten oder vom Militär auszuleihen, kam in der Hektik niemand.

Das Polizeischlauchboot, in das die Spezialkräfte sich schließlich drängten, gab wegen Überladung den Geist auf, Maschinenschaden. Die Polizisten mussten umsteigen, in mittlerweile organisierten Kähnen von Privatleuten. Gegen 18.35 Uhr waren sie auf der Insel und stellten den Täter: Er ergab sich widerstandslos. Er hatte 69 Menschen erschossen.

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Erstellt:
9. März 2019, 06:00 Uhr

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