Die verwegenen drei

Brüder Andreas, Roland und Eugen Claß bestreiten auf ihrem Tridem Langstreckentouren – Zum vierten Mal bei Paris–Brest–Paris dabei

Sie sind ein definitiv eingeschworenes Trio: Andreas (Sulzbach an der Murr), Roland und Eugen Claß (Murrhardt) sind im Sommer das vierte Mal beim französischen Radrennen Paris–Brest– Paris angetreten. Wer über 1200 Kilometer innerhalb von 90 Stunden auf einem Tridem bewältigt, der weiß, wie der Mitfahrer tickt – wie er in die Pedale geht, schaltet, navigiert und unterwegs Essen verteilt. Ihr Bericht macht so viel Laune, dass man sie fast um die Strapazen beneidet.

Kommen ziemlich flott um die Kurve (von links): Eugen, Roland und Andreas Claß auf ihrer Tour Paris–Brest–Paris im August. Foto: privat

Kommen ziemlich flott um die Kurve (von links): Eugen, Roland und Andreas Claß auf ihrer Tour Paris–Brest–Paris im August. Foto: privat

Von Christine Schick

MURRHARDT/SULZBACH AN DER MURR. Es war ein gemütliches Treffen bei einem Bierchen, als Andreas, Roland und Eugen Claß sich 2006 entschlossen, aus zwei Rahmen ein Fahrrad für alle drei zu bauen. „Wir hatten schon Tandemerfahrung und kommen alle aus Metallberufen, konnten das also selbst machen“, erzählt Eugen Claß. Hinzu kam die charmante Idee, sich unterwegs unterhalten zu können – und immer zusammen anzukommen. „Wir verstehen uns einfach auch gut“, so der Tenor. Das Projekt entwickelte sich zu einem echten Renner.

Das Trio fand nicht nur Gefallen an ausgedehnten Ausfahrten, es steuerte auf ein verwegenes Ziel zu: beim Langstreckenrennen Paris–Brest–Paris dabei zu sein, das alle vier Jahre stattfindet. Dazu muss man wissen, dass die Randonneurs – was frei übersetzt so viel wie verwegene Radwanderer heißt – Tag und Nacht fahren und mit wenig Schlaf auskommen müssen, um die Strecke zu bewältigen. Schon die Qualifikationen über eine 200-, 300-, 400- und 600-Kilometerstrecke sind nicht von Pappe. Und obwohl sie 2007 bei ihrer ersten Teilnahme körperlich an ihre Grenzen kamen („Es hat 800 Kilometer nur geregnet.“), sind sie seither immer wieder an den Start gegangen – 2011, 2015 und diesen Spätsommer. „Das Positive hat einfach überwogen“, sagt Andreas Claß. „Die Franzosen sind auch noch ein bisschen radverrückter“, erzählt Eugen Claß. Zu freundlichem Grüßen und Hupen komme auch eine stärkere Rücksichtnahme beispielsweise von Lastwagenfahrern. Keine ganz unerhebliche Rolle spielt auch die Begeisterung über ihr Gefährt, die ihnen auf dem Weg immer wieder begegnet. Sie haben recherchiert, dass sie bisher die einzige Tridemcrew waren, die die Strecke innerhalb der 90 Stunden geschafft hat (Versuche 1931 und 2003 scheiterten). Bei ihrer Premiere erhielten sie einen Preis für das innovativste Sonderfahrzeug.

In den heiligen Hallen – dem Werkstattraum und konspirativen Beratungszentrum im Haus von Eugen Claß – ist das aktuelle, dritte Modell aufgebockt. Mittlerweile sind die Tridem-Brothers, wie sie sich nennen, bei einem Stahlrahmen angekommen, der stabiler und deshalb auch länger und ausgewogener für alle in der Konstruktion ist als früher. Er muss die rund 300 Kilogramm Gesamtgewicht gut schaukeln. Zum Standard gehören Fernlicht, ein kleiner Generator zur Handyladung und Navigationsgerät. Mit dabei hat das Trio genauso Werkzeug, Schläuche, Speichen, Züge, Kettenelemente. „Unterwegs sind wir ja schon auf uns allein gestellt“, sagt der 55-jährige Eugen Claß, der für die Schaltzentrale und als der „MacGyver im Team“ auch für verwegene Reparaturen zuständig ist. Ein Beispiel: Als sich auf einer Tour das Hinterrad durch Geschwindigkeit plus Gewicht so stark erhitzte, dass das Gummi schmolz und sich ausdehnte, beschloss er, einfach in einer Werkstatt unterwegs etwas von den Metallstreben abzuflexen, damit sie weiterfahren konnten. Nur 2015 hat es mit dem Improvisieren nicht mehr geklappt, weil die Gabel brüchig wurde und sie aus Sicherheitsgründen aufgeben mussten.

Während der Jüngste im Bunde, der 46-jährige Andreas Claß, als Steuermann möglichst vorausschauend fahren und alles im Blick haben muss, bildet der 57-jährige Roland Claß die ausgleichende Mitte, von der aus er seine Brüder mit Müsliriegeln und anderen kalorienhaltigen Guddis versorgt („Man muss kontinuierlich essen!“). Ein Klopfen an den Schenkel ist das Signal, dass dann ein Häppchen in der vorsichtig geöffneten Hand nach vorne oder hinten wandern kann. Froh sind die drei, wenn sie irgendwann auf der Strecke auch etwas Warmes bekommen – das Gulasch mit Kartoffeln von den Unterstützern an den Stationen haben sie in allerbester Erinnerung.

Irgendwann kommt aber auch der Punkt, an dem sich die Müdigkeit nicht mehr wegschieben lässt. Aber auch da haben die Tridem-Brothers ihren ganz eigenen Weg gefunden. Ist in der Nacht keine Halle der Organisatoren in der Nähe, halten sie nach einer Bank beziehungsweise einem Bankautomaten Ausschau. Die Vorräume sind nämlich in der Regel frei zugänglich, trotzdem geschützt und im Idealfall mit Teppichen ausgestattet. Mittlerweile haben die drei schon einen guten Blick dafür, welche Bankomatausstattung die bequemste ist. Schmutzfangmatten mit hohen, dichten Fasern bekommen drei Sterne.

Da auf der Strecke weit über 6000 Teilnehmer unterwegs waren, fand ihre Idee Nachahmer. Beim Aufwachen stellten sie bald fest, dass sie nicht mehr die Einzigen waren, die sich dort ein Powernapping gönnten.

Im Eingangsraum einer Bank lässt sich ein Nickerchen machen

„Nicht so toll ist, wenn dann Einzelne das Fahrrad mit reinnehmen wollen oder es zu eng wird und die Tür immer wieder aufgeht, weil sich jemand bewegt“, erzählt Andreas Claß und sein Bruder Eugen ergänzt mit einem Grinsen: „Oder jemand Geld abheben will!“ Aber sich draußen auf der Wiese auszuruhen, geht wegen der Feuchtigkeit nur tagsüber. Die Alternative: ein Kurznickerchen gut eingewickelt in eine Rettungsdecke (Claß’scher Fachjargon: der Randonneur in der Frischhaltefolie) auf der Bank eines Bushaltestellenhäuschens. „Zu lange schlafen oder liegen geht sowieso nicht. Sonst bekommt man Muskelkater“, sagt Andreas Claß. Das Schlimmste: nach einer Ruhephase neben dem Bankomat wieder ins Kalte kommen und nicht den Berg hochfahren können, um warm zu werden.

Wieso tut man sich solche Strapazen überhaupt an? Wegen der Erlebnisse, Begegnungen und dem Unterwegssein. „Das sind drei Sonnenuntergänge und vier Sonnenaufgänge, morgens die ersten Strahlen aufzusaugen, ich meine, wer erlebt das schon?“, sagt Eugen Claß, „die wenigsten fahren über Nacht.“ Ein bisschen Angst hat das Trio nur, wenn es auf einer sehr dunklen Strecke im Wald unterwegs ist. Das Horrorszenario: ein Reh, das unerwartet die Fahrbahn kreuzt. „Wir stimmen dann gemeinsames Wolfsgeheul an, hat bisher immer funktioniert“, stellt Andreas Claß fest. Zudem sind da noch die Unterstützer und Fans am Wegesrand, die sich über das Tridem freuen. „Die flippen aus, rufen, au, le tripplet!“, erzählen die drei. Das ist für sie ein Kompliment, da die Deutschen in der Regel eher als steif und mürrisch gelten. Eine schöne Sache, das Land somit in einem anderen Licht zu zeigen.

Wenn alles glatt läuft, werden die drei das auch beim nächsten Rennen in vier Jahren tun. Die Chancen stehen nicht schlecht, und es gibt schon Pläne für ein neues Modell – mit fluoreszierenden Elementen im Rahmen. Der Vierjahresrhythmus ist genau richtig. Denn auch ihre Familien wollen von ihren Randonneurs „zwischendurch“ ja noch ein wenig mitbekommen.

Info
Fahrer aus 66 Ländern

Die 19. Ausgabe von Paris–Brest–Paris startete am 18. August 2019 in Rambouillet. Das Besondere bei Paris–Brest–Paris (kurz PBP) ist die Atmosphäre und die Unterstützung durch die Anwohner. In vielen Dörfern stehen die Bewohner Tag und Nacht an der Strecke mit Tischen, auf denen sie Wasser, Kaffee und Kekse anbieten – in der Bretagne auch gerne Crêpes. Zur 1200-Kilometer-Strecke kommt die Bewältigung von rund 1000 Höhenmetern. Die Tridem-Brothers haben die Tour in 86 Stunden gemeistert. Insgesamt waren es über 6000 Teilnehmer aus 66 Nationen. Deutschland ist nach Frankreich das Land mit der zweitgrößte Mitstreitergruppe.

Infos: https://tridembrothers.hpage.com

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Erstellt:
25. September 2019, 06:00 Uhr

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