Die weiße Gefahr
Experten raten davon ab, Skipisten in den Alpen zu verlassen – wer sich trotzdem ins Gelände wagt, muss viel wissen
In den Alpen hat es so viel Schnee wie lange nicht mehr. Dennoch bewegen sich Wintersportler abseits der Pisten. Bergführer halten das für brandgefährlich – wenn die Sportler unerfahren sind und sich nicht an einen lebenswichtigen Verhaltenskodex halten.
Tirol Michael Stricker ist braun gebrannt, drahtig und hat ein lockeres Lachen im Gesicht.Er ist staatlich geprüfter Berg- und Skiführer, geht mit Menschen ins alpine Gelände. Am ersten Sonnentag nach den heftigenSchneefällender vergangenen Wochen steht Stricker an der Talstation eines kleinen Skigebiets im Herzen von Tirol. Er begrüßt seine Kunden, schwingt seine extrem breiten Ski über die Schulter und marschiert fröhlich zur Gondel. Den Bergführer und seine vier Gäste zieht es in den frischen Tiefschnee, ins freie Gelände. Dabei warnen offizielle Stellen angesichts der Schneemassen, die die nördlichen Alpen seit Jahresbeginn abbekommen haben, immer wieder davor, die abgesicherten Pisten zu verlassen.
Michael Stricker hält weder sich noch seine Kunden für waghalsig oder gar lebensmüde. Angesprochen auf die ständigen Warnungen vor Lawinen und die zahlreichen Berichte über alpine Gefahren, sagt er: „Es gibt klare Regeln, wie man sich im Gelände zu verhalten hat.“ Und dieser Verhaltenskodex hat für den erfahrenen Skifahrer und Bergsteiger mindestens so viel mit Demut und einem grundlegenden Respekt vor der Natur zu tun wie mit der richtigen Ausrüstung.
Sticker beginnt jeden Tag mit demselben Ritual. Er stellt sich einige Meter von seiner Gruppe entfernt auf und zückt das LVS. Die Abkürzung steht für Lawinenverschüttetensuchgerät. Das trägt jeder aus der Gruppe am Körper. Es fungiert als Sender und ermöglicht es, im Fall einer Lawine unter den Schneemassen gefunden zu werden. Gleichzeitig können andere LVS damit geortet werden. So kann man selbst suchen und das Leben anderer retten. Die Wintersportler fahren einzeln und langsam am Bergführer vorbei. Das Gerät gibt einen kurzen Pieplaut ab wenn es das andere LVS erfasst. So stellt der Chef der Gruppe sicher, dass alle Geräte tatsächlich eingeschaltet sind und funktionieren.
In der einschlägigen Fachliteratur heißt das einzige Prinzip, das bei Notfällen im freien Skiraum helfen kann Kameradenrettung. Das bedeutet, dass nur die Mitglieder der eigenen Gruppe einen Menschen lebend aus einer Lawine bergen können. „Die Bergwacht holt oft nur Tote aus dem Schnee“, wird unter Tourengehern gesagt. Und: „Wer allein unterwegs ist, hat keine Chance.“ Untersuchungen von Lawinenforschern bestätigen das. Demnach überlebt ein hoher Prozentsatz der Opfer zwar den eigentlichen Lawinenabgang. Kommen die Schneemassen zum Stillstand, sind viele Menschen, die erfasst werden, noch am Leben. Doch nach zehn bis 15 Minuten sinkt die Überlebenschance gegen null – es droht der Tod durch ersticken. Innerhalb dieses Zeitfensters können Rettungskommandos nur selten am Unglücksort im abgelegenen Gelände eintreffen.
Aufgrund des starken Windes und der heftigen Schneefälle der vergangenen Tage herrschtin Tirol derzeit ein vergleichsweise hohes Lawinenrisiko– Warnstufe vier ist an diesem sonnigen Tag ausgerufen. „Das bedeutet, dass wir uns extrem defensiv verhalten, steile Hänge meiden und große Abstände einhalten“, erklärt Stricker.
Die Skala kennt fünf europaweit einheitliche Warnstufen. Eins bedeutet: geringe Lawinengefahr. „Abgesehen von extremem Steilgelände allgemein lawinensichere Verhältnisse“, lautet die offizielle Definition. Stufe zwei bedeutet mäßige Gefahr. Doch bereits jetzt sollten Steilhänge von mehr als 40 Grad Neigung gemieden werden. Stufe drei bedeutet erhebliche Gefahr. Lawinen können schon durch geringe Belastungen der Schneedecke abgehen und sich in einzelnen Fällen spontan – also von selbst – lösen.
Stufe vier verheißt große Gefahr. Das bedeutet, die Möglichkeiten, Touren im alpinen Gelände zu unternehmen sind „stark eingeschränkt“, wie es in der offiziellen Definition der Warnstufen heißt. Stufe fünf bedeutet sehr große Lawinengefahr. Hier sollte sich niemand mehr an den Berg wagen. „Bei Warnstufe fünf kommst du in den Alpen meistens gar nicht erst vor die eigene Haustür“, sagt Michael Stricker.
Der Bergführer führt seine kleine Gruppe weg von den Pisten. Nach einem kurzen Aufstieg bekommt man vom lauten Treiben entlang der Lifte und Gondeln kaum noch etwas mit. Die Hänge, die nun vor den Skifahrern liegen, sind unberührt. Jeder kann seine eigene Spur in den frischen Schnee ziehen – der Traum vieler ambitionierter Skifahrer. Doch Hektik darf keine aufkommen. Stricker erklärt die Spielregeln: „Wir fahren die Hänge einzeln ab“, sagt er. Dadurch werde die Belastung auf die Schneedecke minimiert – eine Lawinenauslösung sei weniger wahrscheinlich, als wenn alle gleichzeitig fahren. Völlige Sicherheit gibt es aber freilich nie, ein Restrisiko bleibt.
Die meisten Unglücke ereignen sich laut Statistik der Warndienste im Übrigen nicht bei großer Lawinengefahr, also bei Warnstufe vier. „Ein Dreier ist in der Praxis am gefährlichsten, weil sich da mehr Leute ins Gelände trauen“, sagt Stricker. Egal ob hohes oder geringes Lawinenrisiko herrscht, wer sich abseits gesicherter Hänge bewegen will, braucht Fachwissen. „Wer keine Kenntnisse vom fahren im alpinen Gelände hat, soll sich dringend an einen Profi wenden“, lautet der Rat des Bergführers. Er selbst behält sich vor, nicht jeden mitzunehmen. „Ich fahre nur mit guten Skifahrern“, sagt Stricker. „Schlechte Fahrer haben im Gelände nichts verloren, denn sie erhöhen nur das Risiko für sich und alle Beteiligten.“
In den Alpen werdenLawinenabgängeakribisch erfasst. Der Saisonbericht des österreichischen Lawinenwarndienstes 2017/2018 etwa umfasst knapp 220 Seiten. Für Tirol, wo sich ein großer Teil der Skigebiete befindet, weist der Bericht 94 Lawinenereignisse auf. Dabei gab es sieben Todesopfer und 24 Verletzte. Nur bei einem tödlichen Unglück herrschte Warnstufe vier. Um diese Zahl weiter zu senken, raten Warndienste und Forscher den Wintersportlern dringend dazu, Lawinenseminare zu besuchen, bevor sie abseits der Pisten fahren.
Dass Michael Stricker seinen Beruf trotz aller Freude und Lässigkeit extrem ernst nimmt, spürt man vor allem dann, wenn er auf Leute stößt, die sich offenkundig unvernünftig verhalten. Er berichtet von einer jungen Frau, die er vor wenigen Tagen im Gelände angetroffen hat. „Die war allein und ohne Rucksack, also ohne die Grundausrüstung aus Schaufel, Sonde und LVS-Gerät unterwegs“, erzählt er. „Das ist gleich aus zwei Gründen schlimm“, ärgert er sich. „Wenn etwas passiert, kann dieser Frau niemand helfen, weil sie alleine ist.“ Und: „Wenn diese Frau zu einem Unfall dazukommt, kann sie niemandem helfen, da ihr die nötige Ausrüstung fehlt. Und im Gelände ist man zur Hilfe verpflichtet.“