„Dieses Kind ist ein großes Geschenk“

Der mehrfach schwerstbehinderte Emilio besucht inmitten gesunder Kinder das letzte Kindergartenjahr im Kindergarten Steinbach

Emilio ist ein mehrfach schwerstbehindertes Kind. Der Sechsjährige kann nicht essen, nicht gehen, nicht reden, manchmal muss er beatmet oder flach auf den Boden gelegt werden. Trotzdem wurde er im September vergangenen Jahres in den evangelischen Kindergarten Steinbach aufgenommen. Der Umgang klappt bestens, Emilio fühlt sich wohl und die anderen Kinder, deren Eltern und die Kindergartenleitung profitieren in beeindruckender Weise von dem außergewöhnlichen Miteinander.

Berührungsängste kennen die Spielkameraden von Emilio nicht. Er steht oft im Mittelpunkt und der Umgang mit ihm ist völlig entspannt. Foto: privat

Berührungsängste kennen die Spielkameraden von Emilio nicht. Er steht oft im Mittelpunkt und der Umgang mit ihm ist völlig entspannt. Foto: privat

Von Matthias Nothstein

BACKNANG. Ein fröhliches Stimmengewirr dringt aus dem Zimmer der Sonnengruppe, wo sich ein Dutzend Kinder fröhlich mit allerlei Spielsachen beschäftigt – und mittendrin Emilio. Immer wieder kommt ein Kind an seinen Rollstuhl und widmet sich dem Jungen. Fast wie beiläufig, eigentlich ganz normal. Eben diesen normalen Umgang bestätigt auch Kindergartenleiterin Ines Köpl, die zusammen mit ihrer Zweitkraft Ivonne Makiadi die Gruppe betreut. Oft würden Kinder ein Holzpuzzle auf die Ablage des Rollstuhls legen. Emilio darf dann die Teile rauswerfen. Oder sie bauen einen Turm mit Bauklötzen. Und Emilio darf ihn umwerfen. Es ist toll, wie die Kinder ihn einbinden, sind sich alle Pädagoginnen einig. Köpl bestätigt denn auch, „alle haben ihn ohne Vorbehalte aufgenommen“.

Dies war aber auch gut vorbereitet. Vor zwei Jahren kam Nanny Focke auf die Idee, Emilio für das letzte Kindergartenjahr in einen „normalen“ Kindergarten zu geben. In der früheren Behinderteneinrichtung hat der Junge oft tagelang nur die Wand angeschaut.

Die 45-Jährige ist seit 2015 die Pflegemutter des Kindes. Focke sprach Köpl an, ob es in der Steinbacher Einrichtung die Bereitschaft gebe, den Behinderten aufzunehmen. Diese Bereitschaft war zwar grundsätzlich beim ganzen Team gegeben, bestätigt Köpl, aber damals waren neben der Krippengruppe beide Kindergartengruppen voll belegt. Über eine Aufnahme von Emilio konnte also frühestens zum Kindergartenjahr 2017/18 nachgedacht werden.

Kinderkrankenschwester kümmert sich um den Sechsjährigen

Focke blieb hartnäckig am Thema dran und nutzte die Zeit, alle offenen Fragen zu klären. Und davon gab es einige. In Zusammenarbeit mit Christhild Schenk, der Kindergartenbeauftragten des evangelischen Kirchenbezirks, wurden die gegenseitigen Erwartungen abgeklopft. Es ging um Fragen wie: Was tut Emilio gut und was braucht er? Wie reagiert er auf eine große Gruppe bei beengten Raumverhältnissen? Wie reagieren die Kinder auf Emilio? Wie sieht die Teilhabe an Freispiel, pädagogischen Angeboten, Gartenzeit, Waldtagen und sonstigen Aktivitäten aus?

Von vornherein war klar, dass es für das Kind eine 1:1-Betreuung geben muss. Die mobile Kinderkrankenpflege (Moki) Affalterbach übernahm diesen Part. Eine Moki-Kinderkrankenschwester holt Emilio täglich zu Hause ab, betreut ihn im Kindergarten und bringt ihn auch wieder zurück. Mit einem Monitor überwacht sie die Sauerstoffsättigung und die Herzfrequenz ihres Schützlings und saugt bei Bedarf die Atemwege ab. Auch die Ernährungspumpe hat sie im Auge.

Ferner steht mit Annette Schmidt eine Integrationskraft sechs Stunden pro Woche zur Verfügung. Praktisch ist, dass Schmidt ohnehin im Kindergarten Steinbach arbeitet, sie kann sich daher sehr flexibel und nach Bedarf Emilio widmen. Die Einschätzung der Betreuer ist sehr wichtig. Denn das Motto „viel hilft viel“ ist im Falle von Emilio nicht richtig. Immer geht es um die Frage: Wann braucht der Junge seine Ruhe?

Bei einem Elternabend wurde die Frage, ob man ein solches Kind aufnehmen kann und soll, von der Kindergartenleitung offensiv angesprochen. Die Zustimmung war groß. Ferner sprachen die Erzieherinnen vor Emilios erstem Kiga-Tag mit den Kindern über den besonderen Zugang. Erklärten etwa, dass der Junge bei seiner Geburt nur 800 Gramm gewogen hat. Und beschäftigten sich dann mit Gewichten und der Frage: Was ist ein normales Geburtsgewicht? Oder: Welche Einschränkungen hat er, was kann er und was nicht?

Am ersten Tag gab es Kinder, die zurückhaltend waren, „vor allen die kleineren“, so Köpl. Aber die Vorschulkinder gingen sofort auf Emilio zu, nahmen ihn ohne Vorbehalte auf und untersuchten zum Beispiel, wo all die Kabel an seinem Körper hinführten. Am Anfang kam auch die Frage: Wird er wieder gesund? Und sie konnten die Antwort „Nein“ nicht fassen. Köpl: „Heute ist das kein Thema mehr.“

Inzwischen ist Emilio uneingeschränkter Teil der Gruppe. Alle denken mit, wenn etwa Ausflüge anstehen: Wie geht das mit Emilio? Piepst die Ernährungspumpe, so heißt es im Rund, „Emilio kriegt wieder seine Quetschis“. Und piepst es erneut, „Emilio hat fertig gegessen“. „Alles ist so normal“, staunt Köpl und erzählt die Geschichte, wie bei einem Ausflug ein Radfahrer seinen Drahtesel zwischen die Gruppe und Emilios Rollstuhl geschoben hat. Entrüstet erklärte ein Knirps: „Der Behinderte da drüben gehört zu uns.“ Auch bei der Frage, wer heiratet einmal wen, wird Emilio nicht ausgeklammert. Und wenn jedes Vorschulkind einen Webrahmen fertigen muss, ist es keine Frage, dass alle reihum mitmachen, damit auch „unser Emilio“ einen solchen bekommt. „Wir haben keine einzige schlechte Erfahrung gemacht“, lautet das Fazit der Kiga-Leiterin, die dankbar ist über diese Erfahrung und staunt, was sich da entwickelt hat. „Die Bereicherung unseres Alltags ist enorm. Die Kinder haben keine Berührungsängste mehr. Sie machen Käsperles mit Emilio und lachen gemeinsam. Viele bedauern, dass er nun zur Schule gehen muss und nicht noch ein Jahr bleiben kann. Selbst die größten Rabauken kommen gut mit ihm zurecht. Andere Eltern sagen, ,er tut unseren Kindern so gut‘.“ Wenn die Kinder beim Sommerfest die Raupe Nimmersatt darstellen, ist Emilio der Raupenkopf. Und dass er an Fasching mit seinem Rollstuhl die Polonaise anführt, ist selbstverständlich, natürlich mit einem Kind auf seinem Schoß.

Köpl räumt ein, dass sie anfangs auch Zweifel hatte. Etwa beim Waldtag. „Ich habe gedacht, er kriegt nichts mit. Aber ich habe ihn beobachtet und gemerkt: Er kriegt alles mit.“ In den nächsten Tagen steht das Übernachten der Vorschulkinder auf dem Programm. „Das wird eine Herausforderung“, lacht Pflegemutter Focke, „aber das kriegen wir auch hin.“ Auch sie ist begeistert von der herzlichen Aufnahme, die die Kinder und Eltern Emilio bereitet haben. „Die gesunden Kinder sind für Emilio eine große Bereicherung. Er freut sich jeden Tag, wenn es in den Kindergarten geht.“ Focke, die sich zu Hause auch um drei eigene Teenager kümmert, erklärt: „Wir geben ihn nicht mehr her.“ Inzwischen wiegt der Junge 25 Kilogramm. Im derzeitigen Haus lebt die gelernte Intensivschwester mit ihrer Familie auf drei Stockwerken. Weil ihr klar ist, dass dies nicht mehr lange gut geht, ist sie derzeit mit ihrem Mann auf der Suche nach einem Haus, in dem vieles ebenerdig ist. Denn eines ist für sie sicher: „Emilio darf bei uns bleiben, solange er lebt. Es ist ein großes Geschenk an uns, dieses wundervolle Kind bei uns haben zu dürfen. Für so ein Kind gibt es keine andere Unterbringung.“

Über so viel Nächstenliebe staunt das gesamte Umfeld. Christhild Schenk bringt es auf den Punkt: „Das ist eine einzige Liebestat, was die Frau leistet.“

„Vielleicht kann die Geschichte anderen Mut machen“ Info Christhild Schenk ist die Kindergartenbeauftragte des evangelischen Kirchenbezirks. Sie erklärt: „Wir haben es uns sehr wohl überlegt, ob wir die Aufnahme Emilios wagen können, wir leben ja nicht in Wolkenkuckucksheim.“ Der Aufnahme gingen intensive Gespräche zwischen Trägervertretung, Leitung der Einrichtung und Emilios Pflegemutter voraus. Anliegen der Pflegemutter war es, Emilio in seinem letzten Jahr vor der Schulpflicht einen positiven Entwicklungsrahmen inmitten nicht behinderter Kinder zu geben. Grundsätzlich ist der Kindergarten Steinbach dafür wenig geeignet. In dem alten Gebäude gibt es enge Flure. Eine freie, geschützte Bodenfläche konnte aus Platzgründen nicht zur Verfügung gestellt werden. Die Verkehrsfläche zum Sanitärraum und insbesondere im Sanitärraum ist recht knapp. Die Frage, wie sich die praktischen alltäglichen Abläufe wie etwa das Wickeln im nicht behindertengerechten Wickelbereich gestalten, drohte die Aufnahme zu verhindern. Nach einem Jahr steht heute fest: Das Kind brauchte nicht ein einziges Mal im Kindergarten gewickelt zu werden. Aufgrund der vielen ungeklärten Fragen erklärte sich die Pflegemutter bereit, das Kind wieder nach Hause zu holen, wenn es in der Einrichtung nicht klappt. Nach Ablauf der ergebnisoffenen Phase des gegenseitigen Kennenlernens waren sich alle einig, es zu versuchen. Das Fazit der Kindergartenbeauftragten nach einem Jahr: „Es ist für uns alle beeindruckend, wie nicht nur Emilio selbst, sondern auch die anderen Kinder und Eltern von dem außergewöhnlichen Miteinander profitiert haben. Vielleicht kann diese Geschichte anderen Trägern, Leitungen und Eltern Mut machen.“

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Erstellt:
27. Juli 2018, 10:35 Uhr

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