Zugunglück bei Riedlingen
Ein Bild der Zerstörung – und viele Fragen
Das Zugunglück bei Riedlingen bringt die Rettungskräfte und die herbeigeeilten Politiker an ihre Grenzen. Erinnerungen an die Katastrophe von Eschede drängen sich auf.

© Thomas Warnack/dpa
Rettungskräfte am Tag nach dem Zugunglück bei Riedlingen
Von Rüdiger Bässler, Florian Dürr und Eberhard Wein
Flutartiger Regen ging kurz vor dem Zugunglück am Sonntag, gegen 18 Uhr nieder, und jetzt, am nächsten Morgen, schüttet es noch immer. Schwer zu sagen darum, ob das Tränen sind, die dem eilig nach Oberschwaben angereisten Bahnchef Richard Lutz im Gesicht stehen, als er vor wartenden Journalisten sagt: „Die Bilder und Berichte, die wir alle gestern gesehen haben, und vor allem die Eindrücke, die wir alle zusammen heute Morgen hier gesammelt haben, gehen einem sehr nah und lassen einen betroffen und bestürzt zurück.“ Lutz spricht leise, aber für einen Moment versagt ihm ganz die Stimme, bevor er die „zwei Kollegen“ erwähnt, die gestorben sind. Es sind der 32 Jahre alte Zugführer und der 36-jährige Mann, der vorne neben ihm saß und gerade eine Quereinsteiger-Ausbildung machte.
Kretschmann dankt Einsatzkräften
Auch Winfried Kretschmann spricht kurz, außerdem der Bundesverkehrsminister Patrick Schnieder. „Man kann die Kraft der Verheerung noch sehen, die hier gewütet hat“, kommentiert Schnieder den Anblick der Unfallstelle. Es sei erschütternd. Wie Kretschmann drückt er seine Anteilnahme allen Angehörigen gegenüber aus, den Dank an die Einsatzkräfte, von denen manche in diesem Augenblick schon 18 Stunden auf den Beinen sind, auf der Suche nach Überlebenden und nach Antworten auf die Frage, wie all das geschehen konnte.
Man werde „alles tun, dass es aufgeklärt wird“, sagt der grüne Ministerpräsident. Die improvisierte Pressekonferenz wird auf der Bahnbrücke von Zell gegeben, einem normalerweise idyllischen kleinen Ort im Donautal unweit der Stadt Riedlingen. Jetzt wirkt hier alles dunkel und bedrückend.
Erdrutsch begrub Teile der Gleise
Hinter Kretschmann sind die Trümmer des Regionalexpress 55 zu sehen, der am Sonntag von Sigmaringen Richtung Norden nach Ulm unterwegs war. Und weiter im Vordergrund, gleich hinter den Pfeilern der Bahnbrücke, die breite Spur eines Erdrutsches, der einen Teil der Gleise mit Schlamm und abgerissenen Bäumen und Sträuchern bedeckt. Unfallermittler der Bahn und der Polizei stehen an einem Kanalisationsüberlauf nahe der Bahnböschung. Hier schoss am Sonntag Wasser heraus, wodurch das Unglück vielleicht ausgelöst wurde. War es so? Im Laufe des Tages drängt sich keine andere schlüssige Theorie auf.
Auch nicht jene Spekulation, dass der Zugführer möglicherweise zu schnell gefahren sein könnte. Erste Annahmen von Experten deuten vielmehr auf das Gegenteil hin – dass der 32-Jährige nämlich seine Fahrt im Unwetter deutlich unter die erlaubte Höchstgeschwindigkeit verlangsamt hatte, bevor das ganze Vehikel ins Schleudern geriet und kippte. Man wird die Auswertung des Fahrdatenschreibers abwarten müssen, der geborgen wurde und der Geschwindigkeit, Bremslängen und Bremsmomente aufzeichnet.
Menschen schrien panisch um Hilfe
Noch eine dritte Person ist am frühen Sonntagabend gestorben, eine 70 Jahre alte Frau, die sich ganz hinten im Zug befand, wohin sie ihr Fahrrad mitnehmen konnte. Ein Ermittler sagt gegenüber unserer Zeitung, dass die Tote mit dem Fahrradhelm auf dem Kopf geborgen wurde, sie hatte wohl beabsichtigt, an der nächsten Station auszusteigen. Das Dach dieses hinteren Wagens liegt komplett abgerissen oben auf der Böschung in Fahrtrichtung links. Das riesige Karosserieteil muss gegen eine Esche geprallt sein, die Rinde ist halbseitig bis auf Höhe eines Fußballtores abgerissen. Dieselgestank hängt in der Luft, es bleibt unklar, ob er vom grotesk gestauchten Wrack einige Meter tiefer stammt oder von einem Stromaggregat, das die Rettungskräfte am Vorabend positionierten, um den geisterhaften Ort auszuleuchten, an dem Stunden zuvor nach Zeugenschilderungen Menschen panisch um Hilfe schrien.
„Es sah aus wie im Krieg“
Der Landwirt Johannes Figel war als einer der Ersten vor Ort. „Den Knall habe ich jetzt noch in den Ohren“, berichtet er. Es habe wie im Krieg ausgesehen. Zunächst habe Totenstille geherrscht. Dann seien viele Rettungskräfte gekommen. Er habe dann geholfen, umgestürzte Bäume zu zersägen und wegzuschaffen.
41 Verletzte sind mittlerweile aus den Trümmern gerettet und in Krankenhäuser in Biberach und Ulm eingeliefert worden, Klinikpersonal kam zur Verstärkung, die Krisenkonzepte griffen offenbar. Allein im Sana-Krankenhaus des Landkreises Biberach meldeten sich in kurzer Zeit 250 Mitarbeiter, nachdem per App der sogenannte Massenanfall von Verletzten ausgerufen worden war. „Dank der schnellen Reaktionsfähigkeit unserer Mitarbeitenden und der eingespielten Abläufe konnten wir zielgerichtet und rasch helfen“, sagt der Chefarzt der Biberacher Anästhesie, Sebastian Hafner. Sieben Verletzte werden in Biberach untergebracht, 14 sind es im Bundeswehrkrankenhaus in Ulm, weitere zehn in der dortigen Uniklinik. Auch hier habe sich schnell eine große Zahl an Mitarbeitern vorzeitig aus dem Wochenende zurückgemeldet, sagt der Sprecher Marco Schrodi.
Rettungshunde im Einsatz
Etliche Ärzte konnten zusätzlich als Notfallmediziner an die Unfallstelle eilen. In der Uniklinik befänden sich alle mittlerweile in einem stabilen Zustand, sagt Schrodi am Montagvormittag. Einige Passagiere seien allerdings schwerstverletzt, betont der stellvertretende Ulmer Polizeichef Askin Bingöl. In den Kliniken in Tübingen und Ehingen befinden sich am Abend noch Mensch mit lebensgefährlichen Verletzungen.
Suchhunde mussten während der Nacht die Böschungen absuchen. „Es kommt vor, dass Verletzte im Schockzustand weit laufen“, sagt die Leiterin der Rettungshundestaffel der Ulmer Feuerwehr, Amrei Oellermann. Deshalb habe man die Unfallstelle sehr weiträumig abgesucht. Auch das Rote Kreuz und die Bundesrettungshundestaffel Biberach sind mit Teams vor Ort.
Erinnerungen an Eschede
Besonders herausfordernd ist allerdings der Einsatz für die sogenannten Trümmerhunde, die in dem Zugwrack nach Verletzten suchen. Die Hunde müssen in die havarierten Wagen vordringen. Weil auch Fenster zerbarsten, tragen die Tiere spezielle Schuhe über den Pfoten. Überall sind scharfe Kanten – auch weil die Feuerwehr Verletzte mit Schneidemessern befreien musste, sagt Oellermann, die mit ihrer vierjährigen Mischlingshündin Roya im Einsatz ist.
Konzentriert sind die Hunde am Werk, zur Sicherheit wird ein Tier nach dem anderen durch die total zerstörten Wagen geschickt. Erst gegen 14 Uhr am Montag setzt sich die Überzeugung durch, dass alle Insassen geborgen sind und die Experten mit dem Bergekran zum Zug kommen. Wie beim Zugunglück bei Eschede, bei dem 1998 mehr als hundert Menschen ums Leben kamen, sehe es aus, sagt der Chef des Ulmer Katastrophenschutzes, Michael Ehrenbeck, der die Biberacher Einsatzleitung unterstützt. Dann nähert sich der Kranzug, der die Wagen aufrichten soll. Die Bahn hofft, die Bergung schon am Dienstag abschließen zu können. Wie lange die Sperrung dauert, ist offen. Es gibt einen Ersatzverkehr mit Bussen.