Ein Dichter und ein Bürger

Ganz schön frisch für jemand, der gerade 150 Jahre alt geworden ist: Das Interesse an Thomas Mann ist groß.

Von Eidos Import

Wer bleibt präsent und lebendig im Club der toten Dichter? Ein Nobelpreis für Literatur war noch nie eine Garantie für anhaltendes Lese-Interesse am Werk über den Tod des Urhebers hinaus. Heinrich Böll, Nobelpreis 1972 – heute ein Fall allenfalls für Lesebücher. Günter Grass, Nobelpreis 1999, gerade erst vor zehn Jahren verstorben – klar, da war was, „Die Blechtrommel“; aber sehr viel mehr ist von seinem umfangreichen Werk nicht mehr im Gespräch.

Aber nun: Thomas Mann, Nobelpreis 1929! An diesem Freitag vor 150 Jahren wurde er in Lübeck geboren – und im Jubiläumsjahr 2025 gibt es einen wahren Zauberberg an Artikeln, TV-Dokus, Veranstaltungen, neuen Büchern über sein Leben, seine Familie, sein Werk. Wer sich schon länger für ihn interessiert und dachte, er wüsste doch wohl längst alles Wichtige, ist erstaunt, dass es tatsächlich immer noch Neuigkeiten gibt.

Dieses anhaltende Interesse; nein: diese anhaltende Neugier auf einen Dichter hat mindestens drei gute Gründe. Der erste davon ist schlicht die Qualität seines Werkes. Seine Romane und Novellen sind viel mehr als eine möglichst effiziente Kommunikationsröhre für Botschaften oder gar Lebens-Aufträge an die Lesenden.

Mann ist es vielmehr gelungen, für seine Themen eine im wahrsten Wortsinn stark verdichtete Form zu finden und sie so auf den entscheidenden Punkt zuzuspitzen, dass sie als Projektionsfläche noch für die Leser drei, vier Generationen später taugen. Wer heute von Aufstieg und Fall der Buddenbrooks liest, wird immer wieder an Aufstieg und Fall späterer Kapitalisten-Dynastien denken können; nein: müssen – und vermag sogar zu fantasieren, welches Schicksal wohl ein Buddenbrook-Kind erlitten hätte, das auf den Namen Elon hört.

Der zweite Grund ist Thomas Manns dramatische Biografie, die sich ja selbst wie ein Roman liest. Um es mal zuzuspitzen: Von einem leicht verträumten Bürgersöhnchen, der glaubt, dass es im Leben reicht, sich Schopenhauer, Nietzsche und Wagner zu weihen, angemessen zu heiraten und ansonsten alle Franzosen und die komplette Aufklärung mit Verachtung zu strafen, entwickelt sich der Dichter zum engagierten Staatsbürger – nicht etwa im Austausch und als Ersatz für den Dichter, sondern gerade als Konsequenz seiner Dichtung.

In den Wirren der Weimarer Republik wurde Thomas Mann zum Verfechter der Republik und der Demokratie – nicht, weil er deren Schwächen verkannte, sondern weil er im Geschrei und Gewüte der Gegner der Republik, der Rechten und der Nazis eine Quelle von Maßlosigkeit, von Brutalität, von Vernichtungslust spürte, die ihn anwiderte. „Democracy will win“, die Demokratie wird siegen – diesen Satz verwendete er oft im US-Exil, wenn er öffentlich zum Kampf gegen die Diktatoren aufrief. Es sagt viel über unsere Zeit aus, dass uns diese entschiedene Haltung des Dichters so anspricht.

Und der dritte Grund? Ist das, was oft fälschlich als das größte Hindernis beim Zugang zu seinem Werk angesehen wird: seine Sprache. In einer Zeit, da in vielen Netzwerken die abgehackte Kürze und Rohheit der Sprache offenkundig trefflich harmonieren mit dem durch sie transportierten Hass, die Menschenfeindlichkeit, da bezeugt die Sprache Thomas Manns im Kontrast die Vielfalt der Wirklichkeit. Nein, seine Sprache ist nicht kompliziert, sie ist komplex. So komplex wie unser Leben, wenn wir ehrlich mit uns sind. Und weitaus komplexer als Tiktok. Allein das ist schon gut.

Man hätte bei Thomas Manns Tod 1955 denken können, all das hier Genannte – Inhalt, Haltung, Sprache – wäre schnell ein Fall für die Annalen, für die „tiefste Vergangenheit“. Es ist anders gekommen. Man staunt.

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Erstellt:
5. Juni 2025, 22:07 Uhr
Aktualisiert:
6. Juni 2025, 21:55 Uhr

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