Ein Herrenfriseur mit Puppenklinik

Blick in das Archiv von Peter Wolf: Als Zeitzeugin berichtet die 99-jährige Maria Kübler von der Geschichte des ehemaligen Herrenfriseurs mit Puppenklinik und Spielzeugladen am Adenauerplatz in Backnang.

Maria und Eugen Kübler in ihrer Puppenklinik in den 1960er-Jahren. Repros: P. Wolf

Maria und Eugen Kübler in ihrer Puppenklinik in den 1960er-Jahren. Repros: P. Wolf

Von Claudia Ackermann

BACKNANG. Über manche kleinere Häuser und Geschäfte in Backnang wird in den historischen Quellen nicht viel berichtet. Umso interessanter ist es, wenn es Zeitzeugenberichte gibt, die den Alltag anno dazumal erlebbar machen. Eine Zeitzeugin ist die heute 99-jährige Maria Kübler. Sie kennt die Geschichte des Hauses und seiner Bewohner in der Oberen Vorstadt neben der ehemaligen Schmiede Kübler (heute Adenauerplatz 1) gut. Vor Jahren hat sie eigene Erinnerungen und Erzähltes aus ihrer Familie aufgeschrieben. In dem handschriftlichen Brief heißt es, dass das Haus 1908 von Gottlob Beck an den Friseurmeister Gotthilf Kübler aus Maubach verkauft wurde.

Maria Kübler berichtet in dem Schreiben: „Der Herr Beck war Wirt und Bäcker und hatte eine kleine Weinstube mit zwei runden Tischen. Er hatte in seinem Backofen, der in der Küche eingemauert war, nur Brezeln und Doppelwecken gebacken, die er im Weinwirtschaftle gebraucht hatte. Dort wurde nur Wein ausgeschenkt. Den Wein holte der Nachbar mit zwei Pferden aus Heilbronn oder Willsbach. Es war der Nachbar Koch – Sonnenwirt.“ Über Gotthilf Kübler, ihren späteren Schwiegervater, weiß sie, dass er das jüngste und schwächste von sieben Kindern der „Steinbruch-Küblers“ aus Maubach war. Der Junge musste vorzeitig die Schule verlassen, um das Friseurhandwerk in Öhringen zu erlernen. Dort kam er auch mit Puppenreparatur in Berührung, denn sein Lehrmeister führte neben dem Friseurgeschäft eine Puppenklinik und fertigte auch Puppenperücken an. Diese Kenntnisse wendete Gotthilf Kübler auch in seinem 1908 eröffneten, eigenen Friseurgeschäft in Backnang an und kombinierte es mit einer Puppenklinik. Ein Foto von 1910 zeigt ihn mit weißem Kittel vor seinem Geschäft. „Es wurden in freien Stunden feste Haararbeiten gemacht: Perücken, Zöpfe, Haarteile und Puppenperücken“, heißt es in Maria Küblers Erinnerungen.

Der Krieg bedrohte den kleinen Friseurladen.

Gotthilf Küblers Sohn Eugen erlernte das Friseurhandwerk in Ludwigsburg und arbeitete dann im väterlichen Geschäft. Ein Foto von 1935 zeigt ihn im Laden mit den zwei Gesellen Eddi aus Baden-Baden und Erwin Bohnert aus Backnang, weiß Maria Kübler. Das 1921 in Gschwend geborene „Mariele“ hat es auf schicksalhafte Weise nach Backnang verschlagen. In ihrem Heimatort half sie als 17-Jährige in einer Wirtschaft aus, in der eine Theatervorstellung stattfinden sollte. Aus Backnang war der Friseur Eugen Kübler gekommen, um die Darsteller zu frisieren und zu schminken. Fragt man die 99-Jährige, wann das war, kommt wie aus der Pistole geschossen die Antwort: „Am 1. Mai 1939. Des isch ja wohl leicht zom merga.“ Die beiden blieben in Kontakt und schrieben sich Briefe.

Im Jahr 1940 wurden Eugen Kübler und die Friseurgesellen in den Krieg eingezogen. Der Friseursalon stand vor dem Aus. „S’ Mariele“ aus Gschwend hatte zu jener Zeit eine Stelle in Stuttgart, wo sie das Schneiderhandwerk lernen wollte. Gotthilf Kübler bat sie, nach Backnang zu kommen, mit Worten wie: „Mädle, wenn d’ net kommsch, muaß i mei Gschäft zuamacha!“ Die damals 19-Jährige bat die Frau ihres Lehrmeisters um zwei Wochen Urlaub, aus dem sie nicht wieder nach Stuttgart zurückkehrte. Im Backnanger Friseursalon für Herren durfte sie zunächst nur die Männer zur Rasur einseifen. Aber schon nach einer Woche machte sie bei Kindern Haarschnitte. Im September 1941 heirateten Maria und Eugen Kübler. Die Namensgleichheit zu Eugen Kübler, der direkt nebenan die Schmiede betrieb, ist übrigens rein zufällig.

Marias Mann kam 1943 mit schweren Verletzungen aus dem Krieg zurück und übernahm ein Jahr später den väterlichen Friseursalon mit Puppenklinik. Abends, nachdem das Geschäft geschlossen war, wurden Perücken hergestellt und Puppen repariert, ob Porzellan- oder Zelluloidpuppen (Schildkröt-Puppen). Maria Kübler erinnert sich, dass die Bauersfrauen das ganze Jahr über ihre beim Bürsten ausgefallenen Haare sammelten und um die Weihnachtszeit zur Puppenklinik brachten, wo neue Perücken für ihre Puppen daraus gemacht wurden.

1945 wurde das Ehepaar Kübler von einem Spielwarenvertreter gefragt, ob sie in ihr Schaufenster Spielzeug aufnehmen würden. So entstand im vorderen Bereich des Ladens ein Spielzeuggeschäft, während im hinteren Teil Haare geschnitten wurden. Abends wurden weiterhin Puppen repariert. Ein Foto aus den 1960er-Jahren zeigt Maria und Eugen Kübler in ihrer Puppenklinik in der damaligen Stuttgarter Straße.

Als in den 1970er-Jahren Spielzeug in den Kaufhäusern in großen Mengen angeboten wurde, ging das Geschäft in dem kleinen Laden zurück. Eugen Kübler spezialisierte sich vorwiegend auf Modelleisenbahnen und Flugzeug- und Schiffsmodellbau. Mitte der 1970er-Jahre wurde der Laden geschlossen und an eine Versicherung vermietet. Heute befindet sich in dem Geschäft das Deko- und Schmuckgeschäft Hati-Hati Asian Art. Als der Inhaber Claus Wörner und seine Frau Andrea die Räumlichkeiten 2004 umbauten, kam Erstaunliches zum Vorschein. Das bis dahin verborgene Eichenfachwerk ist bei einem Haus, das bereits vor dem Stadtbrand von 1693 gebaut wurde, nicht verwunderlich. Aber sie stießen auch auf zwei zugemauerte Fenster, die sie freilegten. Die größte Überraschung aber war, dass hinter einer Wandverkleidung aus Sperrholz eine Art Setzkasten auftauchte, der an der Wand montiert war. Das Foto vom Friseurgeschäft 1935 beweist, dass er als Regal diente. In den Fächern standen damals Rasierschalen mit Pinseln, auf die die Namen der Stammkunden geschrieben waren – ein ganz besonderer Service.

Die Puppenklinik wurde von Maria Kübler in ihrem Wohnhaus im Heininger Weg weiterbetrieben. Erst vor zwei Jahren hat sie mit dem Reparieren aufgehört. Ihre Hände und Augen hätten nicht mehr so gut mitgemacht, sagt die 99-Jährige. Damit endete die 110 Jahre dauernde Tradition der Puppenklinik in Backnang.

Gotthilf Kübler (rechts) vor seinem Friseurgeschäft um 1910.

Gotthilf Kübler (rechts) vor seinem Friseurgeschäft um 1910.

Eugen Kübler (links) mit zwei Gesellen um 1935. Das Regal im Hintergrund wurde bei Umbauarbeiten 2004 wiederentdeckt.

Eugen Kübler (links) mit zwei Gesellen um 1935. Das Regal im Hintergrund wurde bei Umbauarbeiten 2004 wiederentdeckt.

Zum Artikel

Erstellt:
5. September 2020, 06:00 Uhr

Artikel empfehlen

Artikel Aktionen

Lesen Sie jetzt!

Stadt & Kreis

Gesellinnen und Gesellen im Rems-Murr-Kreis werden ausgezeichnet

In dieser Woche hat die Lossprechungsfeier der Kreishandwerkerschaft Rems-Murr stattgefunden. In der Barbara-Künkelin-Halle in Schorndorf sind bei dieser Gelegenheit auch die Auszeichnungen an die besten Junghandwerkerinnen und Junghandwerker verliehen worden.

Stadt & Kreis

Das Bildhafte der Kinderkreuzwege spricht Kinder im Herzen an

Viele Kirchengemeinden im Raum Backnang organisieren Kinderkreuzwege und versuchen so, die Leidensgeschichte Jesu auf kindgerechte Art und Weise zu vermitteln. Der Schwerpunkt der Verkündigung liegt dabei nicht auf der grausamen Passion, sondern auf der frohen Osterbotschaft.

Maria Török ist eine von über 100 Pflegekräften im Staigacker. Sie kümmert sich liebevoll und gern um die Bewohner. Foto: Alexander Becher
Top

Stadt & Kreis

Personalnotstand setzt Pflegeheimen im Raum Backnang zu

Weil offene Stellen nur schwer besetzt werden können oder Pflegekräfte krankheitsbedingt ausfallen, kommt es in Pflegeeinrichtungen immer wieder zu Personalengpässen. Trotzdem muss die Versorgung weiterlaufen. Heime greifen deshalb auf Zeitarbeitsfirmen oder Springer zurück.