Ein kleiner Schritt Richtung Wildnis

Im beforsteten Wald werden alte und kranke Bäume gefällt und zu Holz verarbeitet. Es gibt allerdings auch andere Ansätze, nämlich solche, die der Natur zugute kommen. Im Wald der Gemeinde Rudersberg werden tote Bäume stellenweise stehen gelassen.

Eine große Pilzkonsole nährt sich von der toten Buche. Die weiße Wellenmarkierung bedeutet: Dieser Baum wird nicht gefällt. Fotos: A. Becher

© Alexander Becher

Eine große Pilzkonsole nährt sich von der toten Buche. Die weiße Wellenmarkierung bedeutet: Dieser Baum wird nicht gefällt. Fotos: A. Becher

Von Anja La Roche

Rems-Murr. Der Baum steht am Wegrand in einem Waldgebiet der Gemeinde Rudersberg. Seine Rinde ist an der einen Seite abgerissen. Das Holz ist modrig und weich, die Zersetzung in vollem Gange. Über den Rand der Wunde ragen Rindenwülste – ein verzweifelter Versuch des Baums, die Wunde zu schließen und sein Leben zu retten. Dafür ist es jedoch zu spät. „Das ist ein Paradebeispiel“, sagt Jürgen Baumann vom Kreisforstamt. Begeistert betrachtet er den sterbenden Baum. Was er meint? Der Baum ist ein Paradebeispiel für einen sogenannten Habitatbaum – ein Baum, der Lebensraum für Tiere, Pflanzen und Pilze bietet. Deshalb soll er erst gefällt werden, wenn er zur Gefahr für Spaziergänger wird, die aufgrund des angelegten Wegs hier vorbeikommen.

Das Konzept soll die heimischen Tiere und Pflanzen schützen

Würde der verletzte Baum nicht am Wegrand stehen, würde Christian Hamann ihn auch dann nicht fällen, wenn er kurz davor ist umzustürzen. Der Revierleiter des Rudersberger Forstamts hat nämlich die Aufgabe, Habitatbäume in seinem Revier ausfindig zu machen, zu markieren, in der digitalen Karte einzutragen und schließlich vor allem eines: bloß in Ruhe zu lassen. Damit handelt er gemäß dem Alt- und Totholzkonzept (AuT), das die Gemeinde Rudersberg vor über zehn Jahren für ihren kommunalen Wald beschlossen hat. Das Ziel des Konzepts ist, den Wald zu schützen und damit auch die heimischen Tiere und Pflanzen. Statt eines rein ökonomischen Forstbetriebs, bei dem die Bäume in gesundem Zustand für den Holzmarkt gefällt werden, handelt das Forstamt hier also nach ökologischen Prinzipien. „Die Leute sollen wissen, dass wir Förster nicht nur das Geld im Blick haben, wenn wir uns um den Wald kümmern“, sagt Philipp Dölker, Sachbearbeiter beim Kreisforstamt. Insgesamt sind 25 Hektar im Gemeindewald von Rudersberg durch das Konzept von forstlichen Eingriffen befreit. Das entspricht etwa fünf Prozent des gesamten Waldgebiets der Gemeinde. Neben dem kommunalen Wald gibt es zudem Staatswald und Privatwald. Im Staatswald wird das Konzept seit 2014 umgesetzt und im Privatwald meist gar nicht. Bei den privaten Waldstücken handelt es sich meist sowieso um eher kleine Abschnitte, die entweder für den Holzverkauf beforstet werden oder eben gar nicht.

Die drei Förster Hamann, Baumann und Dölker zeigen nach kurzer Autofahrt durch den Wald einen weiteren einzelnen Habitatbaum; diesmal einer, der nicht am Wegrand steht. Die Buche ist stehendes Totholz. Eine dicke Pilzkonsole wächst am Stamm und auf Augenhöhe befindet sich eine eindrucksvolle Spechthöhle. Diese sei vom Specht jedoch nicht als Nest angedacht, so Baumann. Der Vogel wolle nur an die proteinreichen Larven und Käfer im Stamminneren gelangen. Baumann zieht an einer Stelle etwas Rinde ab. Sie lässt sich leicht entfernen und gibt das durchfressene Holz darunter frei. „Die ovalen Löcher sind von der Holzwespe und die runden Löcher vom Holzbock“, erklärt der Kreisförster. Als Nest wäre die Spechthöhle zu nah am Boden, wo der Marder seinerseits auf seine nächste Mahlzeit wartet.

Und weiter geht es, diesmal zu einer Habitatbaumgruppe. Sie ist eine von 27 Gruppen im Rudersberger Forst. In ihr befinden sich vor allem Buchen und Linden, von gesund bis tot. Einige Bäume sind auch für den Laien als tot einzustufen: Sie sind beispielsweise blattlos, haben abgebrochene Äste und faustgroße Spechthöhlen am oberen Stammende. Baumann zeigt auf einen fauligen Eichenstamm, liegendes Totholz. „Das liegt bestimmt schon 20 Jahre hier.“ Dabei ist sowohl das stehende als auch das liegende Totholz wertvoll. Da das stehende Totholz trockener ist, beherbergt es andere Tier- und Pflanzenarten.

Wie Trittsteine reihen sich die Schutzelemente im Wald aneinander

„Das hier ist ein Albtraum für einen Förster“, sagt Baumann. Damit meint er einen rein wirtschaftlich denkenden Förster, der viel Holz verkaufen will. Auch für Spaziergänger und Sportler ist das tote und brüchige Holz eher ein Problem, weil es eine Gefahr darstellt. Das AuT-Konzept versucht deshalb, die drei Funktionen des Walds – Nutzfunktion, Erholfunktion und Schutzfunktion – zu vereinen. Die zu schützenden Habitatbäume, Habitatbaumgruppen und Waldrefugien werden so ausgewiesen, dass sie sich wie Trittsteine aneinanderreihen. Die Flora und Fauna kann sich über diese natürlichen Trittsteine fortbewegen, ernähren und vermehren. Zwischen diesen Trittsteinen findet weiterhin ökonomische und erholsame Waldnutzung statt.

Und schließlich stehen die Förster vor dem „Mini-Urwald“, dem Waldrefugium. Bei diesen Begriffen führt die Fantasie womöglich ein Bild mit zahllosen Tieren und einem verschlungenen Dickicht vor Augen. Das Refugium sieht für einen Laien allerdings nicht so viel anders aus als der Rest des Walds – aber wer weiß, wie es sich entwickeln wird. Das Refugium besteht erst seit einigen Jahren; das Alt- und Totholz wird also noch zunehmen. „Alles auf dieser Seite des Wegs gehört zum Refugium“, zeigt Christian Hamann. Es sind etwa drei Hektar Wald, das ist größer als vier Fußballfelder. Dass man da nicht reinläuft, ist Hamann wichtig: „Lieber von außen schauen, statt Tiere zu stören und sich der Gefahr von abbrechenden Ästen auszusetzen.“

Der Mensch gehört zwar nicht in die Schutzgebiete, denn dort soll die Natur die Hoheit zurückerhalten. Kreisförster Baumann wünscht sich allerdings, dass mehr Leute ihr Bewusstsein für die Prozesse im Wald schärfen. Dann kann man an den Bäumen mit weißer Wellenmarkierung vorbeilaufen, ihre Besonderheiten bestaunen und womöglich in sich eine tiefere Wertschätzung für diese wertvollen Bäume finden.

Jürgen Baumann zeigt die vielen Fraßlöcher unter der modrigen Baumrinde.

© Alexander Becher

Jürgen Baumann zeigt die vielen Fraßlöcher unter der modrigen Baumrinde.

Die drei Schutzelemente des Alt- und Totholzkonzepts

Das kleinste Element ist der einzelne Habitatbaum. Dieser bleibt vom Förster unberührt. Er wird irgendwann umfallen und schließlich vermodern. Ein weißer Ringel auf dem Stamm markiert den entsprechenden Baum als Habitatbaum. Infrage kommen beispielsweise Bäume mit Verletzungen, Fraßspuren oder Horsten. Oder auch besonders alte Bäume sowie Totholz.

Die nächstgrößere Einheit nennt sich Habitatbaumgruppe. Wie der Name vermuten lässt, weist der Revierleiter dabei mehrere beieinanderstehende Bäume als Habitatbäume aus. Unter den rund 15 Bäumen sind auch gesunde dabei, sodass bis zum vollständigen Absterben der Baumgruppe 100 Jahre vergehen können. Diese Bäume werden ebenfalls mit einem weißen Ringel auf dem Stamm markiert. Im Rudersberger Forst gibt es etwa 27 solcher Habitatbaumgruppen. „Wir bevorzugen die Baumgruppen vor den Einzelbäumen“, sagt Hamann. Dem brüchigen Holz der Baumgruppen können die Forstarbeiter leichter aus dem Weg gehen als den einzelnen Habitatbäumen. Das größte Element ist das Waldrefugium. Dabei weist der Förster einen Waldabschnitt von etwa einem bis drei Hektar aus, in welches nicht eingegriffen werden darf – ein „Mini-Urwald“ sozusagen. Ausnahmen für forstliche Eingriffe sind die Verkehrssicherung sowie Maßnahmen für den Naturschutz. Das dabei anfallende Holz verbleibt aber im Wald. Im Rudersberger Gemeindewald gibt es 13 solcher Waldrefugien.

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Erstellt:
1. Dezember 2021, 06:00 Uhr

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