Neu im Kino: „Oslo Stories – Träume“

Ein Mädchen und die Wucht der Gefühle

In seinem Film „Oslo Stories – Träume“ beschreibt der norwegische Filmemacher und Schriftsteller Dag Johan Haugerud den betörenden Rausch einer ersten Liebe. Für diesen zweiten Teil seiner Oslo-Trilogie erhielt er auf der diesjährigen Berlinale den Hauptpreis.

Die 16-Jährige Schülerin Johanne (Ella Øverbye, links) hat sich in ihre Lehrerin Johanna (Selome Emnetu) verliebt. 




Foto: epd/Verleih

©  

Die 16-Jährige Schülerin Johanne (Ella Øverbye, links) hat sich in ihre Lehrerin Johanna (Selome Emnetu) verliebt. Foto: epd/Verleih

Von Martin Schwickert

Das erste erotische Begehren erwacht mit einer Geste in einem Roman. Johanne (Ella Øverbye) hat das Buch in der Hütte ihrer Großmutter gefunden und innerhalb eines Winterurlaubs verschlungen. In dem alten Liebesroman wickelt der Geliebte der weiblichen Hauptfigur sanft einen Wollschal dreimal um den Hals, bevor sie nach draußen geht. Die zärtliche, fürsorgliche Geste löst in der 16-jährigen Leserin eine Welle von Wohlgefühl aus. Fortan lebt der Keim einer Sehnsucht in ihr, der nur darauf wartet, seine ganze Kraft zu entfalten.

Dann betritt die Französischlehrerin Johanna (Selome Emnetu) den Klassenraum. Im morgendlichen Gegenlicht erstrahlt die charismatische, junge Frau, die schon in Paris und New York gelebt hat, in vollster Schönheit. Hals über Kopf verliebt sich Johanne in die Lehrerin. Allein der Blick auf den hochgekrempelten Wollpullover, der sich um die zarte Haut am Unterarm der Lehrerin schmiegt, versetzt das Mädchen in den Zustand vollkommener Erregung. Obsessiv sucht sie Johannas Nähe – und entschließt sich, der Angebeteten ihre Liebe zu gestehen.

Betörender Rausch der ersten Liebe

In „Oslo Stories – Träume“, der in diesem Jahr bei der Berlinale verdient den Goldenen Bären gewonnen hat, untersucht der norwegische Filmemacher und Schriftsteller Dag Johan Haugerud den betörenden Rausch einer ersten Liebe. Mit maximalem Einfühlungsvermögen wirft sich der Film in die subjektive Erlebniswelt der 17-jährigen Hauptfigur, deren Stimme aus dem Off die Ereignisse mit einer erstaunlichen Wortgewandtheit und Reflexionsfähigkeit beschreibt. Die schwärmerische Verklärung, die emotionale Radikalität sowie das schmerzhafte Leid einer ersten großen, unerfüllten Liebe werden hier mit enthusiastischem Detailreichtum unter die Lupe genommen.

Dann tritt der Film zusammen mit seiner Protagonistin einen Schritt zurück. Ein Jahr ist vergangen. Johanne hat ihre ersten amourösen Erlebnisse in einem 93-seitigen Manuskript festgehalten. Den USB-Stick mit der Textdatei trägt sie immer mit sich herum. Nun spürt sie, dass sie ihr Geheimnis mit jemandem teilen möchte. Während ihre Mutter Kristin (Ane Dahl Torp) bei der ersten Lektüre sexuellen Missbrauch wittert, erkennt Großmutter Karin (Anne Marit Jacobsen) – eine Schriftstellerin und bekennende Feministin – vor allem die literarischen Qualitäten des Textes und will das Buch ihrer Verlegerin zeigen.

Jetzt, da die Erinnerungen nicht mehr ihr allein gehören, verändern sich Johannes Gefühle zunehmend. In den Diskussionen von Mutter, Großmutter und Verlegerin werden die subjektiven Erlebnisse nun kategorisiert. Die unterschiedlichen Frauengenerationen blicken nicht ohne Neid auf die Wucht der Gefühle und der Worte. Was vorher für Johanne ein intimes, singuläres Erleben war, kommt nun in die entzaubernden Mühlen der Komplexität. Beides – das große Gefühl und die allmähliche Ernüchterung – zeigt Haugerud mit der gleichen, niemals wertenden Intensität. Dabei bleiben die Figuren, auch wenn sie verschiedener Meinung sind, stets im Dialog miteinander und finden zu jener tiefen Unvoreingenommenheit, die als warmer, (wunderbar unzeitgemäßer) humanistischer Geist alle Filme von Haugerud durchweht.

„Träume“ ist der zweite Teil seiner Oslo-Trilogie, die der Regisseur der norwegischen Hauptstadt und den Menschen, die sie bewohnen, gewidmet hat. Im Zentrum des ersten Filmes „Liebe“, der bereits im Kino läuft, stehen die Urologin Marianne (Andrea Bræin Hovig) und der Krankenpfleger Tor (Tayo Cittadella Jacobsen), die in der onkologischen Abteilung des Krankenhauses eng zusammenarbeiten. Marianne führt ein ungebundenes Liebesleben, in dem eine feste Beziehung keinen Platz zu haben scheint, auch wenn ihre Freundin Heidi (Marte Engebrigtsen) sie unbedingt mit dem netten Geologen von nebenan verkuppeln will.

Eine Fähre, welche die Inseln im Fjord mit der Stadt verbindet, wird zum Haupthandlungsort – eine Zwischenwelt, in der sich die Figuren begegnen und miteinander austauschen. Wunderbar unideologisch denkt der Film darüber nach, wie persönliches Glück, intime Nähe und eigene Bedürfnisse in das Liebesleben eingebunden werden können.

Gegengift zu Polarisierungen

Das gilt auch für den dritten Film „Sehnsucht“ (Start: 22. Mai), der über den Dächern von Oslo von zwei Schornsteinfegern in der Midlife-Crisis erzählt. Die beiden Mittvierziger sind treue Familienväter und sehen sich plötzlich mit Sehnsüchten jenseits ihrer heterosexuellen Normalität konfrontiert.

Haugeruds Oslo-Trilogie ist angetrieben von einer außerordentlichen emotionalen Intelligenz, die Gefühl und Intellekt nie als Widerspruch, sondern als sich ergänzendes, persönliches Ganzes begreift. Filme von solch mitreißendem Einfühlungsvermögen und freudvoller Komplexität sind eine echte Rarität – und ein wohltuendes Gegengift in einem Zeitalter, dessen gesellschaftliche Diskurse vornehmlich durch Polarisierungen geprägt sind.

Oslo Stories – Träume. Norwegen 2024. Regie: Dag Johan Haugerud. Mit Ella Øverbye, Selome Emnetu, Anne Marit Jacobsen. 110 Minuten. Ab 6 Jahren

Zum Artikel

Erstellt:
7. Mai 2025, 14:26 Uhr

Artikel empfehlen

Artikel Aktionen