Ein Mann bekommt sein Leben nicht auf die Reihe

Jugendschöffengericht verurteilt 20-jährigen Arbeiter aus Backnang zu acht Monaten auf Bewährung – Zahlreiche Straftaten

Von Hans-Christoph Werner

WAIBLINGEN. Vor dem Amtsgericht Waiblingen hat sich ein 20-jähriger Backnanger zu verantworten. Es ist eine ganze Palette an Vorwürfen, die gegen ihn erhoben werden. Gemeinschaftlicher Diebstahl, gefährlich Körperverletzung, einfacher Diebstahl, Fahren ohne Fahrerlaubnis, Erschleichen von Leistungen.

Zum anberaumten Termin des Jugendschöffengerichts sind alle versammelt: der Richter, die Schöffen, die Staatsanwältin, die Verteidigerin, der Vertreter der Jugendgerichtshilfe. Nur der Angeklagte fehlt. Man räumt ihm Zeit ein. Vielleicht hat er die letztmögliche S-Bahn genommen. Die Zeit vergeht. Es liegt doch nicht an der S-Bahn. Neuer Gerichtstermin? Schwierig, denn allein zwölf Zeugen sind geladen. Man entscheidet: der Angeklagte wird vorgeführt. Die Urkundsbeamtin telefoniert mit dem Polizeirevier Backnang.

Zwei Backnanger Adressen stehen im Raum. Die Polizei fährt beide an. Und bringt den Angeklagten schließlich wohlbehalten nach Waiblingen. Mit zwei Stunden Verspätung kann die Verhandlung beginnen. Der Richter fragt den Angeklagten nach dem Grund seines Ausbleibens. Er habe verschlafen. Der Richter ist nicht angetan von dieser Auskunft, schließlich warteten ein halbes Dutzend an der Verhandlung Beteiligte. Die Staatsanwältin verliest die Anklageschrift. Zusammen mit anderen Beteiligten hat der Angeklagte im September 2017 einen Kaugummi-Automaten, der zugegeben etwas windschief dastand, vollends aus der Verankerung gerissen. Gerade mal 200 Meter schleppten die Jungs das Corpus Delicti. Zum Aufbrechen kam es gar nicht. Der Angeklagte gibt die Tat zu. Dem Richter, der die Verhandlungen gegen die anderen Tatbeteiligten auch schon geführt hatte, kommt die Bemerkung über die Lippen, zum dritten Mal verhandle er schon „wegen dieses blöden Kaugummi-Automaten“.

Das Nächste. Im Oktober 2017 sieht der Angeklagte nachts einen Roller in Murrhardt stehen. Er schiebt ihn erst, vermag ihn dann zu starten und fährt damit genüsslich herum. Das fällt zwei Wochen später einer Polizeistreife auf, die den Rollerfahrer anhält. Dummerweise kann der Rollerfahrer keinen Führerschein vorweisen. Und dem Fahrgenuss hat er obendrein mit einem Joint nachgeholfen. Zugegeben.

Das Nächste. Fünfmal stieg der junge Mann in einen Regionalzug, ohne zuvor einen Fahrschein zu lösen, und wurde erwischt. Vom Richter danach befragt, sagt der Angeklagte, er habe nicht darüber nachgedacht. Er sei einfach so eingestiegen. Wie er auch in der Verhandlung zeitweise sehr desorientiert erscheint. Der Vertreter der Jugendgerichtshilfe wird später sagen: verpeilt. Juristisch gesprochen sind die Schwarzfahrten Erschleichen von Leistungen. Zugegeben.

Das Nächste. In eine Schlägerei am Backnanger Bahnhof im September 2017 war der Angeklagte verwickelt. Mit Freunden hatte er sich am Bahnhof getroffen. Man wusste offenbar nicht so recht, was anfangen. Ein pakistanischer Taxifahrer, der an den jungen Männern vorbei ins Bahnhofsgebäude ging, um Zigaretten zu kaufen, fiel ihnen auf. Hat der was gesagt? Oder haben sie ihn angerempelt? Ein Wort gab das andere. Die Sache verlagerte sich hin zum Wagen des Taxifahrers. Der fürchtete offenbar Tätlichkeiten, zog seinen Hosengürtel ab und versuchte, damit Eindruck zu schinden. Zumindest hat er dann einen der jungen Männer ziemlich böse damit zugerichtet. Eine mutige junge Frau ging dazwischen. Offenbar wollten die jungen Herren dann dem Taxifahrer eine ordentliche Abreibung erteilen und entfachten den Streit erneut. Der Taxifahrer lag schließlich auf dem Boden und wurde mit Fausthieben und Tritten bearbeitet. Die mittlerweile herbeigeeilte Polizei gebot dem Einhalt. Trotz Vernehmung von acht Zeugen ergibt sich kein klares Bild des Geschehens. Irgendwie mit dabei gewesen ist der Angeklagte schon. Zugegeben. Die Verhandlung wird für eine kurze Mittagspause unterbrochen.

In der Verhandlungspause

einen Joint geraucht

Zurückgekehrt stellt der Richter den Angeklagten zur Rede. Er habe erfahren, dass der Angeklagte in der Pause einen Joint geraucht habe. Das Rauchmaterial muss er mitgebracht haben. Die Polizisten, die den Angeklagten nach Waiblingen chauffiert haben, haben sich damit ohne ihr Wissen als Drogenkuriere betätigt. Zur Person befragt erzählt der Angeklagte von seinem Werdegang. Einige Jahre hat er bei den Großeltern in der Ukraine verbracht. Dann holte ihn die Mutter nach Deutschland. Nach dem Hauptschulabschluss wollte er zur Bundeswehr. Aber weil bei der ärztlichen Untersuchung Cannabis im Blut auffiel, gelang das nicht. Dann habe er ein freiwilliges soziales Jahr gemacht. Was er da gemacht habe und wo, will der Richter wissen. Der junge Mann kommt nicht drauf. Aber wenn er ein Jahr lang in einer Einrichtung gearbeitet habe, müsse doch irgendeine Erinnerung da sein? Der Angeklagte bleibt die Antwort schuldig. Auf seinen Drogenkonsum angesprochen erzählt der Angeklagte, dass er mit 16 Jahren angefangen habe und so jeden zweiten Tag einen Joint brauche. Und dass er in der Verhandlungspause einen Joint geraucht habe, das sei, so der Richter, für den Angeklagten „wohl ganz schön cool?“ Der grinst. „Was sollen wir nur mit Ihnen machen?“ fragt der Richter laut vor sich hin. Wäre er bereit, eine Therapie zu machen? Eine Therapie, erklärt der Betroffene grinsend, warum denn nicht.

Die Staatsanwältin sieht die Anklage in ihrem Plädoyer bestätigt. Nach Jugendstrafrecht will sie aus erzieherischen Gründen neun Monate auf Bewährung verhängt wissen. Sichtlich schwer tut sich die Verteidigerin des Angeklagten. Die Bewährung, so hebt sie hervor, müsse so engmaschig gestaltet werden, dass ihrem Mandanten wirklich geholfen sei. Das Gericht urteilt nach kurzer Beratung: acht Monate auf Bewährung. Mit dabei zwei Wochen Dauerarrest. Bewährungsauflage: Zuteilung eines Bewährungshelfers, Suchtberatungsgespräche mit dem Ziel, eine Therapie zu veranlassen, und 300 Euro Wiedergutmachung für den gestohlenen Roller. Und bitte, bitte, so der Richter, bei der Rückfahrt nach Backnang jetzt nicht schwarzfahren.

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Erstellt:
7. November 2018, 06:00 Uhr

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