„Ein nicht mehr wegzudenkender Beratungsdienst“

Die Anlaufstelle gegen sexualisierte Gewalt wird immer stärker gefordert und stößt damit an personelle Grenzen.

Symbolfoto: Stock-Adobe/Romolo Tavani

© Romolo Tavani - stock.adobe.com

Symbolfoto: Stock-Adobe/Romolo Tavani

Von Armin Fechter

WAIBLINGEN. Der Bedarf an Rat und Hilfe in Fällen sexueller Gewalt ist enorm. Die Anlaufstelle gegen sexualisierte Gewalt im Rems-Murr-Kreis bekommt das zu spüren: Rund 250 Opfer und Angehörige waren zuletzt im Jahr zu beraten. Damit ist die Anlaufstelle ein nicht mehr wegzudenkender Beratungsdienst des Kreisjugendamts für Mädchen, Jungen und deren Familien, wie Jugendamtsleiter Holger Gläss jetzt im Kreis-Jugendhilfeausschuss sagte.

Die Anlaufstelle ist seit 1997 in drei Bereichen tätig: Beratung, Prävention und Netzwerken. Mit diesen Arbeitsschwerpunkten ist die Anlaufstelle auch gut ausgelastet. Stark zugenommen hat dabei die Beanspruchung durch Vereine, Verbände, Schulen, Kindertageseinrichtungen und Jugendhilfeträger. Bereits im vergangenen Jahr konnten deshalb nicht mehr mehr alle Anfragen zu Präventionsangeboten und zur Begleitung von Schutzkonzepten bedient werden, berichtete Gläss. Entweder müsse man da personell nachsteuern oder aber im Bereich Prävention Anfragen vermehrt ablehnen. Derzeit verfügt die Einrichtung über vier Personalstellen, die auf sechs Kräfte verteilt sind. Die Zahl der Präventionsangebote ist von 60, 47 oder 50 in den Vorjahren auf 81 im vergangenen Jahr gestiegen, die Zahl der Teilnehmer auf fast 4500. „Wenn der Bedarf weiter wächst“, so auch Landrat Richard Sigel, „müssen wir darüber sprechen.“

In den vergangenen Jahren wurden zudem etliche weitere Projekte entwickelt, für die die Expertise der Anlaufstelle benötigt wurde, wie Sigel sagte. So können sich seit November 2019 Opfer von Vergewaltigungen an das Rems-Murr-Klinikum Winnenden wenden, medizinische Hilfe und die Spuren der Gewalttat gerichtsverwertbar sichern lassen – ohne zugleich Anzeige erstatten zu müssen. Die Anlaufstelle arbeitet eng mit dem Projekt „Medizinische Soforthilfe nach Vergewaltigung“ zusammen. Nach der medizinischen Versorgung können sich 14 bis 21 Jahre alte Betroffene in der Anlaufstelle gegen sexualisierte Gewalt oder ab dem 21. Lebensjahr bei Pro Familia in Waiblingen beraten lassen.

„Übergriffe sind fester Bestandteil unserer Lebensrealität geworden.“

Die Entwicklung der Fallzahlen in der Anlaufstelle zeigte ebenso wie die bundesweit veröffentlichten Daten, „dass das Thema sexualisierte Gewalt und sexueller Missbrauch bedauerlicherweise ein fester Bestandteil unserer Lebensrealität geworden ist“, berichtete das Jugendamt. Der Umgang mit dem Thema sexualisierte Gewalt sei eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die für Einrichtungen und Institutionen eine große fachliche und personelle Herausforderung darstelle.

Die Zahl der beratenen Opfer hat sich seit zehn Jahren auf einem hohen Niveau stabilisiert. Beraten werden sowohl Betroffene als auch Angehörige. 2019 wurden 247 Opfer und Angehörige und zusätzlich 168 Fachkräfte aus dem Netzwerk beraten. Zudem berät die Anlaufstelle auch die Beschuldigten. Deren Zahl hat sich ebenfalls auf einem hohen und stabilen Niveau eingependelt. So wurden 2019 insgesamt 75 Personen im Beschuldigtenkontext beraten. Etwa ein Drittel von ihnen ist erst zwischen sieben und 13 Jahre alt, wie der Jugendamtsleiter Gläss auf erstaunte Nachfrage von Bettina Jenner-Wanek bestätigte. Dies spiegele die Tatsache wider, dass es schon auf Schulhöfen oder in Vereinen zu sexuellen Übergriffen von Kindern auf Kinder komme. Gleichzeitig sieht Gläss darin eine Bestätigung dafür, dass die Gesellschaft mittlerweile auf entsprechende Vorfälle reagiere. In diesem Alter sei es aber leichter, eine Verhaltensänderung zu bewirken.

„In den Beratungssituationen zeigt sich immer wieder die Unsicherheit und fehlende Kenntnis im Umgang mit dem Thema sexualisierte Gewalt“, heißt es andererseits aus Sicht der Anlaufstelle bezüglich der Opfer. Oft ergeben sich aus den Einzelberatungen heraus auch weitergehende Präventionsveranstaltungen sowie die Entwicklung von Schutzkonzepten in den jeweiligen Einrichtungen und Institutionen. Oft führten der „Schock“ über einen Fall und die Auseinandersetzung mit einer aktuellen Gefährdungssituation dazu, dass präventive Maßnahmen vorgenommen werden.

Die Netzwerkarbeit nimmt rund 15 Prozent der Personalressourcen der Anlaufstelle in Anspruch. Dabei gehe es um den regelmäßigen kollegialen und fachlichen Austausch mit den Fachkräften aus den verschiedenen Arbeitsfeldern und Institutionen – von der Polizei über die Justiz, Therapeuten und Schulen bis hin zu Ärzten, Jugendhilfe und Vereinen. Dies sei von grundlegender Bedeutung, damit im Einzelfall schnell und zielführend gehandelt werden könne.

Für den Arbeitsbereich Prävention stehen etwa 25 Prozent der Arbeitskapazitäten zur Verfügung. Zielgruppen von Veranstaltungen sind Mädchen und Jungen, Eltern, Fachkräfte, Netzwerkpartner und Ehrenamtliche. In diesem Bereich seien viele Überstunden angefallen, die im Verlauf der Coronapandemie wieder abgebaut werden konnten.

Was ist sexuelle Gewalt?

Die Anlaufstelle gegen sexualisierte Gewalt definiert sexuelle Gewalt in einem Informationsblatt so:

„Sexuelle Gewalt ist: wenn Dich gegen Deinen Willen jemand an intimen Körperstellen berührt (beispielsweise Scheide, Penis, Brust), wenn jemand Dich zwingt, einen anderen an intimen Körperstellen zu berühren, wenn Dich jemand vergewaltigt hat, wenn jemand von Dir Nacktfotos macht, Dir welche zuschickt oder welche zeigt, wenn jemand Dich zwingt, pornografische Videos zu sehen, wenn jemand Dich bei intimen Handlungen filmen möchte.“

Die Anlaufstelle gegen sexuelle Gewalt ist im Rems-Murr-Kreis an drei Standorten vertreten: in Waiblingen, Schorndorf und Backnang.

Kontakt in Backnang: Angela Gruber, Am Obstmarkt 7(in der Hauptstelle der Kreissparkasse), Telefon 07191/895-4058, E-Mail a.gruber@rems-murr-kreis.de, Fax 07191/895-4059. Vom Bahnhof Backnang ist die Anlaufstelle nach sieben Minuten Fußweg zu erreichen.

Infos: www.rems-murr-kreis.de/jugend-gesundheit-und-soziales/kreisjugendamt

Zum Artikel

Erstellt:
25. September 2020, 06:00 Uhr

Artikel empfehlen

Artikel Aktionen

Lesen Sie jetzt!

Stadt & Kreis

Die Konfirmandenarbeit hat sich sehr verändert

In den vergangenen Jahrzehnten hat sich die Konfirmandenarbeit stark verändert. Beispiele aus der Region zeigen, dass der Unterricht längst nicht mehr als reine Unterweisung mit Auswendiglernen gesehen wird.

Stadt & Kreis

Backnang will Kiffen auf dem Straßenfest verbieten

Die Stadtverwaltung in Backnang plant, das Rauchen von Cannabis auf dem Straßenfest zu untersagen. Auch andernorts wird das Kiffen trotz Teillegalisierung verboten bleiben, beispielsweise in Freibädern. Viele Gastrobetreiber wollen keine Joints in ihren Außenbereichen.

Stadt & Kreis

Saskia Esken stellt sich wütenden Fragen in Weissach im Tal

Die Bundesvorsitzende der SPD nimmt auf Einladung des Ortsvereins Weissacher Tal auf dem Roten Stuhl Platz. Die Besucherinnen und Besucher diskutieren mit ihr über die Themen Wohnungsbau, Ukrainekrieg, Verkehr und die Politik der Ampelkoalition.