„Ein Zehnstundentag reicht nicht aus“

Das Interview: Gemeindetagspräsident Steffen Jäger ist der Ansicht, dass beim Hochwasserschutz nicht nur die öffentliche Hand, sondern auch die Bürger gefordert sind. Der 42-Jährige meint, dass Elementarschäden-Pflichtversicherungen die schlimmsten Härten abfedern könnten.

Als Hauptgeschäftsführer des Gemeindetags hat Steffen Jäger viel zu tun. Planbare Freizeit gibt es nur sehr eingeschränkt. Foto: A. Becher

© Alexander Becher

Als Hauptgeschäftsführer des Gemeindetags hat Steffen Jäger viel zu tun. Planbare Freizeit gibt es nur sehr eingeschränkt. Foto: A. Becher

Oppenweiler/Stuttgart. Nach vier Jahren als Bürgermeister in Oppenweiler wechselte Steffen Jäger vor sieben Jahren zum Gemeindetag Baden-Württemberg. Rasch wurde der heute 42-Jährige Erster Beigeordneter. Seit 1. Februar dieses Jahres ist er Präsident des kommunalen Landesverbands. Zudem wurde er am 22. Juni in Berlin zum Vizepräsidenten des Deutschen Städte- und Gemeindebunds (DStGB) gewählt. Im Interview nimmt Jäger Stellung zu den Themen, die derzeit die Kommunen bewegen.

Herr Jäger, Ihr beruflicher Weg sieht nach einer steilen Karriere aus. War dieser Weg von Ihnen so geplant?

Man sollte und kann Karriere nicht planen. Ich bin aus Überzeugung seinerzeit zum Gemeindetag Baden-Württemberg gewechselt, weil ich die Hoffnung hatte, dass ich dort meine Fähigkeiten zum Wohle aller kreisangehörigen Städte und Gemeinden in Baden-Württemberg einbringen kann. Das scheint dem Vernehmen nach ganz ordentlich geklappt zu haben. Deshalb hat man mir jetzt mehr Verantwortung im Verband Gemeindetag Baden-Württemberg zugetraut. Darüber freue ich mich.

Wo sehen wir Sie in zehn Jahren?

Das lässt sich nicht sagen, aber ich glaube, dass dieses Amt ein Amt ist, das auf längere Frist angelegt ist und das davon lebt, dass eine Kontinuität gegeben ist. Es hängt natürlich immer davon ab, dass man seine Aufgaben auch gut erledigt, weil es natürlich auch an Wiederwahlen hängt. Aber mein Bestreben ist es, mich auch auf lange Zeit für das Wohl unserer Kommunen in Baden-Württemberg einzusetzen.

Was hat sich durch die Wahl zum Vizepräsidenten des DStGB geändert?

Das neue Amt wird sicher ein neues Maß an Verantwortung bedeuten, das ist mir bewusst. Ich glaube aber, dass das zusätzliche Maß an zeitlicher Belastung sich nicht wesentlich von dem unterscheiden wird, was auch seither schon abzuleisten war.

Vor drei Jahren haben Sie im Interview von einem Zehnstundentag gesprochen. Reichen zehn Stunden noch aus?

Ich glaube, dass in allen Kommunalverwaltungen in Baden-Württemberg in den letzten 16 Monaten selbst zehn Stunden am Tag nicht ausgereicht haben. Wir waren zwischenzeitlich wirklich in einem gefühlten Ausnahmezustand. Wir hatten mehr oder weniger wöchentlich veränderte Verordnungslagen und mussten uns anpassen. Wir hatten tausende Videokonferenzen, die dann dazu geführt haben, dass die Taktung der Terminsetzung noch enger wurde, als es in den Präsenztaktungen möglich war, und deshalb waren die letzten 16 Monate sicherlich so geprägt, dass diese zehn Stunden tendenziell eher zu knapp waren.

Angesichts der Hochwasserkatastrophe im Westen Deutschlands stellt sich die Frage: Wie sind die Städte und Gemeinden im Rems-Murr-Kreis gerüstet?

Wir müssen uns vergegenwärtigen, dass wir bei diesen Ereignissen über ein Unwetterereignis historischen Ausmaßes sprechen, das man sich so in Mitteleuropa nicht hat vorstellen können. Ein solches Ereignis mit einem Ausmaß, das viele Hundert Liter Regenfall auf einem Quadratmeter binnen kürzester Zeit mit sich gebracht hat, das wird man nicht eindämmen können. Da kann es dann nur noch um Schadensminimierung gehen. Den Bereich der Warnung der Bevölkerung, den Bereich des Einübens, wie man sich in einem solch massiven Katastrophenfall verhält, und auch die Frage, welche Schutzvorkehrungen die öffentliche Hand, aber auch die Bürgerinnen und Bürger selbst treffen können, müssen wir jetzt noch sehr genau auf den Prüfstand stellen. Da geht es um die Aufgaben, die die öffentliche Hand zu erbringen hat. Aber es geht vorrangig auch um die Frage, was jeder Einzelne dazu beitragen kann, um die Schäden zu minimieren oder gar zu vermeiden.

Sind also jetzt Bund, Länder und Kommunen, aber auch die Bürger gleichermaßen gefordert?

Ich glaube, jeder muss überlegen, wie er sich künftig gegebenenfalls angepasst auf eine solch große Ereignislage einstellt. Das beginnt bei der Alarmierung bis hin zu dem, was ich als Schutzvorkehrung treffen kann. Es liegt auf der Hand, dass in Bezug auf Privatgebäude die öffentliche Hand nicht einen vollständigen Schutz realisieren kann. Wir müssen auch ernsthaft darüber diskutieren, ob nicht auch eine Pflicht zur Versicherung von Elementarschäden einen Beitrag dazu leisten kann, im Schadensfall die schlimmsten Härten abzufedern. Mir ist bewusst, dass das sowohl rechtlich als auch emotional eine nicht einfach zu beantwortende Frage ist. Aber wir sehen, dass ein solches Ereignis dazu führen kann, dass viele 10000 Menschen über Nacht nicht nur gesundheitlich oder noch schlimmer gefährdet oder beschädigt wurden, sondern dass sie auch ihre wirtschaftliche Existenz gefährdet sehen. Das könnte man über eine Pflichtversicherung ein Stück weit auffangen.

Thema Klimaschutz – was können da Städte und Gemeinden noch besser machen als bisher?

Städte und Gemeinden leisten gerade in Baden-Württemberg in Summe schon einen sehr großen Beitrag zum Klimaschutz. Gleichzeitig nehme ich wahr, dass es eine große Bereitschaft gibt, auch noch mehr für den Klimaschutz zu tun. Ich nehme für mich in Anspruch, dass ich sehr regelmäßig mit einer großen Zahl an Kommunen spreche. Ich habe in den letzten vier Wochen sicherlich vier- bis fünfhundert Bürgermeister entweder virtuell oder auch leibhaftig gesehen. Wichtig ist, dass wir erkennen: Klimaschutz abstrakt findet in der Gesellschaft eine sehr, sehr große Zustimmung. Klimaschutz konkret bedeutet oftmals auch intensive Konflikte auf der örtlichen Ebene.

Welche Konflikte meinen Sie?

Es gibt diesen geflügelten Satz: Freitags gehen die Kinder für das Klima auf die Straße und samstags die Eltern gegen das Windrad. Da ist leider durchaus Wahrheit drin. Es muss wieder zum guten Ton gehören, dass man auch im Zweifel eine Individualbetroffenheit hinter dem Allgemeinwohl einordnet. Klimaschutz im Konkreten wird viele Individualinteressen tangieren und auch überlagern müssen. Das müssen wir aber auch von der Bevölkerung abverlangen.

Wenn wir uns einschränken, leidet darunter unser Lebensstandard?

Wir sollten Klimaschutz so umsetzen, dass es möglich ist, unseren erreichten Wohlstand in die Zukunft fortzuschreiben. Dann schaffen wir es, auch eine gewisse Sogwirkung in andere Teile dieser Erde auszusenden, nach dem Motto: Schaut mal hin, die schaffen das, Klimaschutz zu machen und gleichzeitig mit wirtschaftlichem Erfolg und damit gesellschaftlichem Wohlstand zu leben. Wir dürfen es auf gar keinen Fall in ein Gegeneinander bringen, dass wir sagen, der Wohlstand muss aufgegeben werden, um Klimaschutz zu erreichen. Ich möchte aber nicht falsch verstanden werden. Das heißt nicht, dass der Wohlstand eins zu eins so ausgestaltet sein muss, vor allem im Konsumentenverhalten, wie wir es heute haben.

Das Thema Corona beherrscht und beschäftigt uns seit weit über einem Jahr. Was ist zu tun, um die Pandemie in den Griff zu bekommen?

Die kommunale Ebene hat in den letzten 16 Monaten einen sehr maßgeblichen Beitrag dazu geleistet, dass es immer wieder gelungen ist, diese Pandemie in den Griff zu bekommen. Ich würde auch für den Gemeindetag Baden-Württemberg in Anspruch nehmen, dass wir hier ein Stück weit dazu beitragen konnten, weil wir bereits im März 2020 begonnen haben, ein Lagezentrum zu etablieren, das 24 Stunden sieben Tage die Woche gearbeitet hat, in Schichten natürlich, das aber einfach imstande war, diese hohe Schlagzahl einer neuen Verordnungsgebung so zu übersetzen, dass unsere 1065 Mitgliedskommunen es in verständlicher Art und Weise transportiert bekommen haben, damit Verwaltung auch in dieser hoch frequentierten Zeit von Notverkündung zu Notverkündung möglich war.

Was werden die Kommunen aus dieser Pandemie lernen können?

Bei dieser Frage gibt es zwei Dimensionen: Wir haben erkannt, dass es durchaus von großem Vorteil sein kann, wenn wir auch digitale Verwaltungsdienstleistungen in den Rathäusern anbieten. Es gehört sicherlich zum 21. Jahrhundert dazu, dass man einen Großteil der Verwaltungsdienstleistungen von zu Hause entweder erledigen oder zumindest anstoßen kann.

Und die zweite Dimension?

Die zweite Ebene ist sicherlich deutlich schwieriger zu beantworten. Welche gesellschaftlichen Veränderungen wird die Pandemie mit sich bringen? Gibt es Dinge, die durch die letzten 16 Monate eine grundlegende Neuorientierung in der Gesellschaft verursacht haben? Da denken wir zuvörderst an das Thema Ehrenamt. Kommen alle Ehrenamtlichen auch wieder zurück? Da gibt es jetzt erste Signale, dass wir da durchaus optimistisch sein dürfen.

Aus finanzieller Sicht belastet die Kinderbetreuung die Kommunen immens. Was können Städte und Gemeinden künftig anbieten?

Seit dem Jahr 2007 haben wir die Zahl der Fachkräfte im Kindergarten und in der Kita verdoppelt. Die finanziellen Mittel, die in den Kommunalhaushalten dafür aufgewendet werden, sind um 150 Prozent, also um das 1,5-fache, angestiegen. Jetzt haben wir die Herausforderung, dass wir glücklicherweise wieder deutlich mehr Kinder in Baden-Württemberg bekommen, mit der Folge, dass wir in einen immensen weiteren Ausbaubedarf kommen, nicht mehr nur bei den kleinen Kindern unter drei Jahren, sondern auch im Kindergartenbereich. Aber der Fachkräftemarkt ist schlichtweg leer gefegt. Deshalb müssen wir jetzt kurzfristig die Frage beantworten: Wie können wir für alle Kinder, die ein Betreuungs- beziehungsweise frühkindliches Bildungsangebot beanspruchen wollen, einen adäquaten Platz anbieten? Das ist bei diesem Thema die wichtigste Aufgabe, vor der wir stehen. Deswegen ist es kurzfristig auch nicht möglich, über andere Dinge zu sprechen.

Bei Ihrem Start im Gemeindetag haben Sie gesagt, dass für die Kommunen im ländlichen Raum die ärztliche Versorgung das Megathema der kommenden Jahre sein wird. Wo stehen wir heute?

Es ist eines der großen Themen, insbesondere der ländlichen Räume, aber zwischenzeitlich eben nicht nur dieser. Zugegebenermaßen haben die verschiedenen Herausforderungen beziehungsweise Krisen der letzten Jahre dazu geführt, dass es nie in der öffentlichen Wahrnehmung ganz vorne stand, nur dort, wo eben diese medizinische Versorgung durch einen niedergelassenen Hausarzt nicht mehr gegeben ist. Da steht es ganz oben auf der kommunalpolitischen Agenda. Gerade der erreichbare Hausarzt ist ein ganz, ganz wesentliches Element für das eigene Sicherheitsempfinden bezogen auf die Gesundheit. Ich glaube, dass gerade jetzt auch die letzten 16 Monate einer Pandemie deutlich gemacht haben, wie hoch der Wert einer erreichbaren, niedergelassenen ambulanten Versorgung ist. Deshalb müssen wir unsere medizinische Versorgung noch stärker darauf ausrichten, dass wir eine Flächendeckung und eine Wohnortnähe haben.

Ist die Online-Videosprechstunde eine sinnvolle Lösung bei Unterversorgung?

Alles, was dazu beiträgt, Medizin näher zu den Menschen zu bringen, ist ein guter Ansatz. Ich kenne das Modellprojekt, seit es zwischen dem Hausarzt Dr. Steinat in Oppenweiler und der Gemeinde Spiegelberg betrieben wird, durchaus etwas tiefer. Mich überzeugt der Ansatz, weil es gerade in der Nachsorge bedeutet, dass man sehr viele Fahrtwege sparen kann, und das ist sowohl für den Patienten als auch für den behandelnden Arzt durchaus effizient. Eines muss uns aber immer bewusst sein, und das ist auch in diesem Modell so hinterlegt: Telemedizin kann natürlich nicht eine direkte Behandlung oder Untersuchung am Menschen ersetzen. Aber eine telemedizinische Ergänzung der bestehenden Strukturen, das ist nicht nur möglich, sondern nach meinem Dafürhalten auch geboten.

Mit neuer Verantwortung in Berlin und einem Zehnstundentag, wie viel Freizeit bleibt Ihnen noch übrig?

Das ist unterschiedlich. Also planbare Freizeit gibt es nur sehr eingeschränkt. Man muss dann, wenn sich Lücken auftun, diese auch bewusst nutzen. Und wenn ich diese Lücken habe, dann versuche ich sie vorrangig mit der Familie zu nutzen. Wenn dann noch was übrig bleibt, dann gehe ich laufen.

Das Gespräch führte Florian Muhl.

Steffen Jäger „Wir sollten Klimaschutz so umsetzen, dass es möglich ist, unseren erreichten Wohlstand in die Zukunft fortzuschreiben.“
Steffen Jäger

1979 in Karlsruhe geboren

1999 bis 2002 Studium an der Fachhochschule für öffentliche Verwaltung in Ludwigsburg (Diplom-Verwaltungswirt)

2003 LVA Baden-Württemberg, Außenstelle Freiburg (FB Rehabilitation)

2003 bis 2010 Ministerium für Arbeit und Soziales

2010 bis 2014 Bürgermeister der Gemeinde Oppenweiler

Seit 2014 Gemeindetag Baden-Württemberg, seit 1. Februar 2021 Präsident und Hauptgeschäftsführer

Seit 1. Juli 2021 Vizepräsident des Deutschen Städte- und Gemeindebunds (DStGB)

Steffen Jäger ist mit Martina Jäger (38) seit 2009 verheiratet. Zusammen haben sie drei Jungs (fast zehn, sechs und drei Jahre).

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Erstellt:
9. August 2021, 06:00 Uhr

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