Einblicke in Biografien von Ermordeten

Rundgang zu Stolpersteinen für Backnanger Euthanasie-Opfer anlässlich des 75. Jahrestages der Befreiung des KZ Auschwitz

Anlässlich des 75. Jahrestages der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz veranstaltete die Friedensinitiative Backnang einen Stadtrundgang zu Stolpersteinen für die Opfer von Euthanasie. An den Stationen gab es Einblicke in die Biografien der ermordeten Menschen.

Der Stadtrundgang zu Backnanger Stolpersteinen macht Halt am Burgplatz 10 vor der Alten Schmiede. Foto: J. Fiedler

© Jörg Fiedler

Der Stadtrundgang zu Backnanger Stolpersteinen macht Halt am Burgplatz 10 vor der Alten Schmiede. Foto: J. Fiedler

Von Claudia Ackermann

BACKNANG. Trotz des Nieselregens fanden sich am Montagabend rund 40 Teilnehmer zum Stolperstein-Rundgang ein. Die Veranstaltung ist eine Kooperation der Backnanger Initiative für Frieden und Abrüstung, der Initiative Stolpersteine, der Naturfreunde, der Awo und dem Libertären Treffen Rems-Murr.

Am Stolperstein für Gotthold Deufel in der Erbstetter Straße 2 begann der Rundgang. Friedrich Gehring von der Friedensinitiative gab Einblicke in die Biografie des Backnangers, der am 11. Juni 1940 in der Tötungsanstalt Grafeneck ermordet wurde. Gotthold Deufel wurde 1876 geboren. Ab seinem 24. Lebensjahr kam er mit Diagnosen aus dem schizophrenen Formenkreis immer wieder in Heilanstalten. Ab 1911 war er auf unbestimmte Zeit in der Heilanstalt Winnenden untergebracht. „Als die Anstalt ab Oktober 1939 alle Pflegebedürftigen melden musste, geriet auch Gotthold Deufel in die NS-Vernichtungsmaschinerie“, führte Gehring aus.

Mit einem Stück auf der akustischen Gitarre ergänzte Werner Schwarz das Gedenken, bevor es zum nächsten Stolperstein an der Alten Schmiede am Burgplatz ging. Gehring erinnerte hier an das Schicksal von Wilhelm Kübler, der im Jahr 1900 geboren wurde und in dem heute noch bestehenden Gebäude aufwuchs. Auf Beschluss des Amtsgerichts wurde er 1934 oder 1935 in die Heilanstalt Winnental eingeliefert. Zusammen mit Gotthold Deufel wurde er nach Grafeneck verbracht und dort ermordet.

Nur ein Steinwurf von der Alten Schmiede entfernt liegt auf dem Adenauerplatz der Stolperstein für Friedrich Doderer. „Sein Schicksal dürfte zunächst einen Psychiatrieskandal darstellen. Nachdem Doderer eine Erfindung gemacht hatte, wurde er plötzlich ein Fall für die Psychiatrie“, so Gehring. Friedrich Doderer wurde am selben Tag wie Deufel und Kübler in Grafeneck ermordet. Nicht nur im Fall Doderer, sondern auch bei anderen Personen stelle sich die Frage, ob die Diagnosen überhaupt richtig waren. „Wir erinnern heute an den NS-Unrechtsstaat. Wir müssen aber auch stets wachsam sein, dass sich heute solches Unrecht nicht wiederholt“, schloss Friedrich Gehring.

Am Ölberg befinden sich zwei Stolpersteine. An das Schicksal von Emilie Wagner, die 1870 geboren und im Alter von 70 Jahren in Grafeneck ermordet wurde, erinnerte Margrit Schatz. Emilie Wagner hatte mit ihrem Mann, dem Schuhmacher Karl Wagner, vier Kinder, von denen drei das Kindesalter überlebten. Ihr Beruf wird mal mit Näherin, mal mit Haushälterin angegeben. Zuletzt wohnte sie im Haus Ölberg 9a. Zwanzig Jahre lang war sie Patientin in Winnental, bis sie am 24. Juni 1940 abgeholt, nach Grafeneck verschleppt und dort am selben Tag durch Gas getötet wurde. In ihrer Krankenakte heißt es in einem handschriftlichen Vermerk: „Verlegt“.

Über die Biografie von Luise Grün, die 1873 geboren wurde, informierte Christel Koksch. Luise Grün hatte mit ihrem Mann Gottlob Grün innerhalb von neun Jahren sieben Kinder und war früh verwitwet. 1918 zog sie in das Frauenstift am Ölberg 11, ein Haus für alleinstehende, arme Frauen. Nachdem sie 1928 als schizophren eingestuft wurde, wurde sie in verschiedene Heilanstalten verlegt, bis sie am 30. Mai 1940 zur Ermordung nach Grafeneck gebracht wurde.

Im Anschluss an den Rundgang fanden sich die Teilnehmer im kleinen Theaterraum im Bandhaus ein. Benjamin Glemser, der in der Diakonie Stetten eine Ausbildung zum Heilerziehungspfleger macht, hat sich mit dem Thema Euthanasie beschäftigt. Er wies darauf hin, dass in den beiden Jahren 1940 und 1941 im Rahmen der sogenannten T-4-Aktion mehr als 70000 Menschen mit körperlichen und geistigen sowie seelischen Behinderungen systematisch ermordet worden sind. Diese Ermordungen seien Teil der Krankenmorde in der Zeit des Nationalsozialismus gewesen, denen bis 1945 über 200000 Menschen zum Opfer gefallen seien. Aus eigener Erfahrung in der Diakonie Stetten berichtete er von älteren Menschen, die die Schrecken der Nazi-Zeit erlebt haben. Die Berichterstattung über aktuelle Entwicklungen löse bei einigen schwere Angstzustände aus. „Es ist unsere Aufgabe, aufkommenden, menschenverachtenden Gedanken Einhalt zu gebieten und im Keim zu ersticken. Menschen mit Behinderungen sind ein Teil unserer Gesellschaft“, unterstrich Benjamin Glemser.

Als Abschluss der Stolperstein-Veranstaltung wurde die Videoaufzeichnung der Bandhaus-Theater-Produktion „Kannst Du schweigen? Ich auch!“ gezeigt. 14 Amateurdarsteller erzählen in dem Stück, das im Jahr 2015 uraufgeführt worden war, die Biografien der Opfer von Euthanasiemorden.

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Erstellt:
29. Januar 2020, 06:00 Uhr

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