60 Jahre Élysée-Vertrag

Eine empfindliche Ehe

Vor 60 Jahren legten Frankreich und Deutschland mit dem Élysée-Vertrag den Grundstein für die europäische Idee. Seitdem gab das Powerduo Paris-Berlin den Ton vor. Kanzler Scholz und Präsident Macron finden indes nur mühsam zueinander.

Spröder Kanzler, flamboyanter Président: Scholz (li.) und Macron tun sich schwer miteinander.

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Spröder Kanzler, flamboyanter Président: Scholz (li.) und Macron tun sich schwer miteinander.

Von Stefan Brändle

Eine diamantene Hochzeit ist fällig: Vor 60 Jahren, am 22. Januar 1963, besiegelten Deutschland und Frankreich ihre Versöhnung nach drei schweren Kriegen. Charles de Gaulle sprach bei der Unterzeichnung mit „erfülltem Herzen“ von der „immensen Bedeutung“ des Anlasses für Europa und die Welt. Ebenso bewegt sagte Konrad Adenauer: „Herr Präsident, Sie haben die Empfindungen und Gefühle (. . .) so treffend wiedergegeben, dass ich nichts hinzufügen brauche: Jedes Wort, das Sie gesagt haben, entspricht unserem Willen und unserer Auffassung.“

Aus dem Geist der Versöhnung wuchs die europäische Idee – EWG, EG, heute EU. Seither geben deutsch-französische Paare den Ton vor: Valéry Giscard d’Estaing und Helmut Schmidt, François Mitterrand und Helmut Kohl, Jacques Chirac und Gerhard Schröder sowie gleich mehrere Partner für Angela Merkel. Man stritt sich oft, einigte sich meist und zog dann mit einem einzigen Projekt ins EU-Gipfeltreffen, wo sich das Powerduo Berlin/Paris problemlos durchsetzte.

„Zeitenwende“ ohne Rücksprache

Jetzt sind Emmanuel Macron und Olaf Scholz an der Reihe, doch irgendwie läuft der Motor nicht mehr rund. Der spröde Hanseat und der flamboyante Franzose finden nur mühsam zueinander. Dabei verfolgen sie im Ukraine-Krieg einen ähnlichen, nämlich vorsichtigen Kurs. Dissonanzen gab es zum Thema Energiepreisdeckel oder zur Atomkraft. Als Scholz seinen „Doppel-Wumms“ lancierte, hätten die Franzosen gerne gewusst, was der Kanzler mit den 200 Milliarden Euro bezweckt, doch der Kanzler hielt sich bedeckt. An der Spree ließ hingegen Macron Unmut aufkommen, als er die französische Staatsschuld auf bis über 115 Prozent des Bruttoinlandsprodukts ausufern ließ. Statt den Geldhahn zuzudrehen und die Inflation zu bekämpfen, will der spendable Élysée-Herrscher einfach die Defizit- und Schuldenregeln ändern.

Auch Macrons Lieferung leichter Schützenpanzer an die Ukraine war nicht mit Berlin abgesprochen. Sie erhöht den Druck auf Scholz nachzuziehen. Früher, noch zu Merkels Zeit, wäre es eine Selbstverständlichkeit gewesen, dass man sich vorab abspricht. Auch eine „Zeitenwende“ hätte das Kanzleramt nicht ohne Rücksprache mit Paris lanciert.

Empfindliche Reaktion nach deutschem Alleingang

Die Herzlichkeit von 1963 hat gelitten, Misstöne und Missverständnisse mehren sich. Im Oktober platzte Macron der Kragen, als Scholz ohne die übliche Absprache mit Paris seine European Sky Shield Initiative (ESSI) startete. Paris bleibt bei dem Luftabwehrschirm gegen russische Raketen außen vor. Ein Mitmachen ist undenkbar für Frankreich, den EU-Pionier, der stolz auf die größte Armee der Union ist. Macron reagierte empfindlich, ließ eine lang geplante deutsch-französische Regierungssitzung in Fontainebleau kurzerhand platzen. Der Eklat wirkte. Macron legte noch einen drauf: Er ließ Scholz wissen, Deutschland habe sich in der Energiepreisfrage „isoliert“. Wie üblich bemühten sich Berlin und Paris bald wieder, die Fugen zu kitten. Die gemeinsame Regierungssitzung kam wieder ins Programm. So treffen sich die deutsche und die französische Regierung nun am kommenden Sonntag an der Pariser Sorbonne-Universität, um den 60. Jahrestag des Élysée-Vertrags zu feiern.

Allein, die lyrischen Töne dürften nüchterner ausfallen. Man hat gemerkt und wird es auch zelebrieren: Die deutsch-französische Beziehung ist alternativlos. Doch die Solotouren der letzten Monate haben Spuren hinterlassen. Macron schaut Richtung Süden, wo er Gleichgesinnte weiß. Schon Ende 2021 hatte er einen Freundschaftsvertrag mit Italien – damals noch unter Ministerpräsident Mario Draghi – geschlossen. Der Élysée-Vertrag stand Pate. An diesem Donnerstag hat Macron in Barcelona ein ähnliches Abkommen mit Spanien geschlossen. Ist die deutsch-französische Freundschaft nicht mehr die einzige, die exklusive? Oder noch einfacher gefragt: Geht Macron fremd?

Paris fühlt sich an den Rand gedrängt

So einfach ist es nicht. In Paris glaubt man im Gegenteil, es sei Deutschland, das immer mehr nach Osten blicke und Frankreich den Rücken zukehre. Der französische Historiker und Germanist Jacques-Pierre Gougeon zitiert Wolfgang Schäuble, laut dem die Zukunft der EU in Osteuropa liege – und Polen mittlerweile so wichtig sei wie Frankreich. Solche Sichtweisen schmerzen in Frankreich, wo man sich im Gegenzug nicht einfach nach Westen wenden kann – da ist nur noch der Atlantik. Das EU-Kernland Frankreich fühlt sich an den Rand einer immer größeren EU gedrängt. Und Südeuropa ist halt auch kein richtiger Ersatz.

Letztlich war es wohl das diffuse Gefühl, dass sich „les amis allemands“, die deutschen Freunde, von Frankreich abwenden, das Macrons Eklat auslöste. Wie sehr das schmerzt, offenbarte der frühere Mitterrand-Berater Jacques Attali, als er sich zur provokativen Feststellung hinreißen ließ: „Der Krieg zwischen Frankreich und Deutschland wird wieder möglich.“ Die beiden Länder hätten schon immer strategisch divergierende Interessen gehabt, meinte Attali; nur die Angst vor einem neuen Konflikt wie in den Weltkriegen halte sie zusammen.

Verständnisvolle französische Diplomaten

In Paris wurde Attali gescholten, er habe sich wieder einmal in der Wortwahl vergriffen. Im Quai d’Orsay, dem französischen Außenministerium, zeigen die Diplomaten eher Verständnis für die schwierige Lage Deutschlands, dessen gesamte Ostpolitik – ökonomisch wie sicherheitspolitisch – in Scherben liegt. Nirgends hört man in Paris Kommentare, man habe die deutschen Freunde ja gewarnt, dass Nord Stream 2 Deutschlands Abhängigkeit vom Kreml noch verstärke.

Mit der Sprengung der Gaspipeline hat sich der deutsch-französische Pipelinestreit von selbst erledigt. Was bleibt, ist eine grundlegend unterschiedliche Vision der Sicherheits- und Verteidigungspolitik: Frankreich propagiert die „strategische Autonomie“ Europas ohne den Schutzschirm der USA; Deutschland will sich dagegen nicht auf eine europäische Armee verlassen, solange die Wunschdenken bleibt. Deshalb hatte man in Berlin Macrons Aussage über die „hirntote“ Nato 2019 sehr schlecht aufgenommen.

Aber auch Paris bleibt frustriert über den Fortbestand dieser strategischen Divergenz. Der konservative Abgeordnete Jean-Louis Thériot, Vizepräsident der Verteidigungskommission der französischen Nationalversammlung, befand kürzlich von Neuem, Deutschland strebe „nicht wirklich eine europäische Verteidigung“ an, sondern versuche sich lieber unter den „amerikanischen Schutzschirm“ zu begeben.

Bonn bekannte sich zu USA und Nato

Neu sind diese Differenzen allerdings mitnichten. Schon im Élysée-Vertrag hatte de Gaulle bewirkt, dass die USA, Großbritannien oder die Nato als Alliierte nicht einmal erwähnt werden – als gäbe es kein westliches Verteidigungsbündnis. Der Bundestag in Bonn korrigierte diese Sicht unilateral: Er ratifizierte das deutsch-französische Abkommen, indem er für die deutsche Seite eine Präambel anfügte, in der sich die Bundesrepublik zum Atlantikpakt mit den USA und der Nato bekannte.

De Gaulle war bereits wieder eingeschnappt. Der Freundschaftsvertrag hielt dennoch. Für die Deutschen wie die Franzosen überwogen die Vorteile, nämlich die Bildung einer Kernbeziehung im Herzen Europas, an der niemand vorbeikommen sollte. Eine Win-win-Situation, wie man heute sagen würde: Die BRD kehrte dank Frankreich ins Konzert der europäischen Nationen zurück, und Frankreich konnte seine Grandeur über seine Landesgrenzen hinaus auf das Europaprojekt übertragen. Berlin und Paris bleiben bis heute aufeinander angewiesen, wenn sie in einem veränderten Umfeld in und außerhalb der EU bestehen wollen. Ihr 60-jähriger Diamant hat zwar ein paar Kratzer abgekriegt, er zeigt gar Risse, die auf eine gewisse Entfremdung in den letzten Jahren zurückzuführen sind.

Aber er bleibt solider, als man angesichts der zahlreichen wirtschafts- und verteidigungspolitischen Differenzen meinen würde. Oft braucht es gewaltige Anstrengungen, um bilateral zusammenzufinden: Die gemeinsamen Rüstungsprojekte wie etwa das Kampfjet-System FCAS wurden nur durch ein Machtwort aus dem Élysée und dem Kanzleramt gerettet, und auch so sind sie noch nicht über dem Berg. Aber das Beispiel FCAS zeigt: Berlin und Paris haben gar keine andere Wahl, als gemeinsame Sache zu machen. Gerade in Krisen- und Kriegszeiten wie diesen.

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Erstellt:
20. Januar 2023, 14:58 Uhr
Aktualisiert:
20. Januar 2023, 15:06 Uhr

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