Eine Liebeserklärung an das Kino

Aus den Ruinen des Luxushotels Marquardts hat Eugen Mertz nach dem Krieg einen Ort der Träume geschaffen. Die Innenstadtkinos feiern jetzt ihren 75. Geburtstag.

Peter Alexander kam in den 1970ern zur Eröffnung des Gloria-Kinos.

© Innenstadtkinos

Peter Alexander kam in den 1970ern zur Eröffnung des Gloria-Kinos.

Von Uwe Bogen

Stuttgart - Als Eugen Mertz für den 12. Juli 1950 prominente Ehrengäste zur ersten Vorstellung in sein neues Kino im Marquardt-Gebäude eingeladen hat, wählte er einen unter den Nazis verbotenen Film von 1938 aus. Zur Premiere des neuen Filmtheaters unweit des Stuttgarter Schlossplatzes lief die Historien-Schmonzette „Liebeslegende“, die Joseph Goebbels wohl nicht allein aus politischen Gründen verboten hatte. Die Hauptdarstellerin Lída Baarová an der Seite von Willy Fritsch war die Geliebte des Reichspropagandaministers – doch sie hatte sich von ihm abgewendet, was zum Aus des Films führte. Erst 1950 ist die preußische Liebesgeschichte für die Bundesrepublik freigegeben worden.

Das Kino im großen Saal des einstigen Luxushotel hieß EM – und heißt auch heute noch so. EM sind die Initialen von Eugen Mertz. Der Cannstatter Architekt, der zu den Köpfen des Widerstands in Stuttgart zählte (die Naziherrschaft war für ihn „die Machtergreifung des Pöpels“), bat nach der Vorstellung zu einer „zwanglosen Stunde“ im Café. So steht’s in dem Brief, mit dem er wichtige Herrschaften samt „Ihrer verehrten Frau Gemahlin“ eingeladen hatte. Was damals niemand ahnte: Bereits zwei Jahre nach der feierlichen Kinopremiere ist der Gründer der heutigen Innenstadtkinos im Alter von 56 Jahren viel zu früh gestorben.

OB Klett holt Eugen Mertz ins Stadtplanungsamt

Eugen Mertz, der vor dem Krieg ein Kino in Cannstatt betrieb und aus einer Winzerfamilie stammte, war mit dem parteilosen Rechtsanwalt Arnulf Klett befreundet. Beide kannte sich aus dem Widerstand gegen die NSDAP. Als Klett von der französischen Militärverwaltung zum Oberbürgermeister ernannt wurde, bat der neue Rathauschef ihn, sich im Stadtplanungsamt um den Aufbau der zerstörten Stadt zu kümmern.

Das tat dieser mit voller Kraft. Für den schaffigen und konventionellen Mertz lief es gut. Doch mit seinem Plan, die Cannstatter Mineralwasser in Leitungen zum Schlossplatz zu führen und dort in der Schlossruine ein Mineralbad zu eröffnen, konnte er nicht den Gemeinderat überzeugen. Enttäuscht verließ der Visionär das Rathaus und kaufte 1946 die Marquardt-Ruine von der Württembergischen Hypothekenbank – sein persönliches Glück: Denn dieser Kauf war der Beginn einer Erfolgsgeschichte als Unternehmer. Heute werden die Innenstadtkinos, die aus dem EM hervorgingen, von Karin Fritz geführt, der Enkelin des Gründers (ihr Vater Eberhard Mertz war bis 2013 aktiv).

Die Kinos Cinema, Gloria und City kamen später hinzu und sind Teil einer kulturellen Institution, die mit viel Leidenschaft von den Nachkommen von Eugen Mertz geführt werden. Vom Metropol-Kino wenige Meter weiter hat sich die Familie Mertz 2020 getrennt – und dort nun mit der Übernahme mit Teilen des ehemaligen Bahnhofs von Traumpalast-Chef Heinz Lochmann neue Konkurrenz in der Nachbarschaft bekommen.

Zum 75-jährigen Bestehen laden die Innenstadtkinos vom 2. bis 6. Juli zum großen Feiern ein: Mit dem Blockbuster „Jurassic World: Die Wiedergeburt“ startet nicht nur ein neues Kinoabenteuer auf der Leinwand, sondern auch das vielfältige Jubiläumsprogramm mit Aktionen, Gewinnspielen, Dekorationen und Mitmach-Aktionen.

Das Hotel Marquardt war vor dem Krieg das erste Haus am Platze. Wer auf einem der kleinen Balkone über der Königstraße stand, mit der prachtvollen Fassade im Rücken, sah vor lauter Bäumen das Neue Schloss kaum. Der Baumbestand des Schlossplatzes war damals üppig und fast so dicht wie in einem Wald. Den Namen verdankt das Hotel dem Unternehmer Wilhelm Marquardt.

Wenige Schritte vom alten Bahnhof entfernt hat dieser im 19. Jahrhundert eine Herberge gegründet, die rasch zur internationalen Topadresse geworden ist. Der Komponist Richard Wagner (auf der Flucht vor seinen Gläubigern) stieg hier ab, aber auch Otto von Bismarck, Karl May und Graf Ferdinand von Zeppelin. Eugen Mertz machte aus dem ehemaligen Hotel ein Geschäfts- und Kinohaus. 1951 kam die Komödie im Marquardt hinzu, die im nächsten Jahr 75 Jahre alt wird.

Die Kinostars reisten einst persönlich an – wie etwa 1957 Gina Lollobrigida zum Deutschlandstart von „Der Glöckner von Notre Dame“. Der Ansturm der Fans war so groß, dass der gesamte Marquardt-Bau von der Polizei abgesperrt werden musste. In den 70ern kam Peter Alexander zur Eröffnung des Gloria, eines weiteren Kinos der Familie.

Anfang der 50er hieß der EM-Betriebsleiter Armin Albert Lerche. Der Mann liebte Filme – und Schallplatten. Im Marquardt-Bau eröffnete er einen Plattenladen. Lerche hat Stadtgeschichte geschrieben. Denn er war Ende der 1950er der Gründer der legendären Lerche-Musikhäuser. In dem Raum, in dem sich sein erstes Plattengeschäft im Marquardt befand, lagern die Innenstadtkinos heute ihre Getränke.

Die cineastische Liebe ist und bleibt unverändert

Viele Erinnerungen sind mit diesen Kinos im Herzen der City verbunden: das erste Date, das gemeinsame Lachen über eine Komödie, das stille Mitfühlen bei einem bewegenden Drama, heimliche Küsse. Hier werden Geschichten lebendig – auf der Leinwand und im Leben der Menschen.

Generationen von Kinofans haben die 75 Jahre begleitet: vom ersten frisch vor Ort hergestellten Popcorn über den 35-mm-Projektor bis zur digitalen Projektion, vom Stereoton der Anfangsjahre bis zum heutigen Dolby-Atmos-Sound, vom harten Klappsitz bis zum modernen D-Box Mofion Seat.

Die Kinosäle haben sich technisch weiterentwickelt – doch die cineastische Liebe ist unverändert groß geblieben. In einer Zeit, in der Filme rund um die Uhr per Knopfdruck verfügbar sind, wirkt der Weg ins Kino beinahe wie ein nostalgisches Ritual. Doch das gemeinsame Erlebnis vor der riesigen Leinwand zieht einen mit dem Surround-Soundsystem noch viel tiefer in die Geschichte hinein. Deshalb glauben die Kinobetreiber an die Zukunft ihrer Filmtheater.

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Erstellt:
26. Juni 2025, 22:08 Uhr
Aktualisiert:
26. Juni 2025, 23:16 Uhr

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