Gaza-Konflikt
Entscheidung über Einnahme Gazas
Ministerpräsident Netanjahu scheint fest entschlossen, den Gazastreifen vollständig zu besetzen. Kritik daran kommt sogar aus der israelischen Armee.

© dpa/Ohad Zwigenberg
Armeechef Zamir hat seine Ablehnung wohl deutlich formuliert
Von Mareike Enghusen
Im Gazakrieg steht womöglich eine riskante Eskalation bevor: Am Donnerstagabend sollte Israels Sicherheitskabinett über eine mögliche Besatzung des gesamten Küstenstreifens beraten. Die Entscheidung war zu Redaktionsschluss dieser Ausgabe noch nicht gefallen. Sie hätte für Palästinenser wie Israelis wohl dramatische Folgen.
Netanjahus Plan ist hoch umstritten
Die Haltung des Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu scheint festzustehen: Wie israelische Medien berichten, will er den gesamten Gazastreifen besetzen lassen. Konservative Militärexperten in Israel, etwa Kobi Michael und Gabi Siboni, fordern seit Monaten eine komplette Besatzung sowie die Errichtung eines vorübergehenden Militärregimes in Gaza. Nur so könne Israel die Hamas langfristig von der Macht vertreiben.
Netanjahus Plan ist jedoch hoch umstritten. Armeechef Eyal Zamir lehnt ihn ab – und soll, wie die Nachrichtenagentur Reuters mit Verweis auf Insider berichtet, dies bei einem Treffen mit dem Premier sehr deutlich gemacht haben. Demnach fürchtet Zamir, dass eine Besatzung sich lange hinziehen und zu hohen Verlusten unter den Soldaten führen könnte – zumal es bislang weder eine Exit-Strategie noch eine politische Langzeitplanung für Gaza gibt.
Angehörige der Geiseln zeigen sich von Netanjahus Vorhaben schockiert
Zudem sorgt Zamir sich um das Schicksal der 20 noch lebenden Geiseln, die die Hamas in ihrer Gewalt hält. Schon jetzt kontrolliert die IDF rund Dreiviertel des Gebiets: eine breite Pufferzone entlang den Grenzen zu Israel und Ägypten sowie ein Gebiet im Süden des Streifens um die Stadt Rafah. Ausgenommen ist ein Landstrich entlang der Küste einschließlich der Stadt Gaza im Nordteil und mehrerer Flüchtlingscamps im Zentrum des Gazastreifens. In beiden dieser Gebiete werden israelische Geiseln vermutet – einer der Gründe, warum die IDF diese Orte bisher meidet. Die Hamas hat in früheren Fällen Geiseln ermordet, nachdem israelische Soldaten sich ihrem Standort genähert hatten.
Angehörige der Geiseln zeigen sich von Netanjahus Vorhaben schockiert. Erst kürzlich hatte die Hamas neue Aufnahmen von zwei Geiseln veröffentlicht. Die Männer sind darauf extrem abgemagert. Die Bilder haben die Israelis erschüttert – und die Verzweiflung der Geiselfamilien vertieft.
Analysten zählen weitere Gefahren einer Besatzung auf
Am Donnerstag brachen zwanzig Geiselangehörige zu einer Segelfahrt nach Gaza auf, um für die Freilassung der Entführten zu protestieren. „Das derzeitige Gerede von der Besetzung Gazas und einer Ausweitung der Kämpfe bringt die Geiseln in unmittelbare Lebensgefahr“, warnten sie.
Analysten zählen weitere Gefahren einer Besatzung auf: Schätzungen zufolge könnte sie Israel umgerechnet rund zehn Milliarden Euro im Jahr kosten – ganz zu schweigen von dem diplomatischen Preis, den das Land wohl zahlen müsste. Zudem könnte eine so folgenschwere Entscheidung die Risse, die die israelische Gesellschaft schon jetzt durchziehen, gefährlich vertiefen.
Internationale Hilfsorganisationen warnen vor den Folgen für die Palästinenser in Gaza. Schon jetzt haben die meisten der gut zwei Millionen Menschen dort ihr Zuhause verloren, viele mussten mehrmals fliehen. Eine Ausweitung der Einsätze dürfte zu weiteren Evakuierungen, zu weiterem Elend in überfüllten Flüchtlingslagern führen.
Berichten zufolge soll Armeechef Zamir eine andere Taktik vorgeschlagen haben: Die IDF könnte die Gebiete im Zentrum des Gazastreifens unter eine Blockade stellen und mit Razzien und Luftangriffen gegen die Hamas vorgehen. Doch ob er Netanjahu und seine Minister überzeugen können wird, ist fraglich. Ungenannte Quellen aus dem Umfeld des Regierungschefs, zitiert von der Zeitung „Haaretz“, haben Zamir bereits nahegelegt, zurückzutreten. Manche Kommentatoren bezweifeln, dass Netanjahu den Plan von der Besatzung durchziehen will: Er könnte den Druck auf die Hamas erhöhen wollen, um diese zu Zugeständnissen zu zwingen. Doch diese Taktik hat er in den letzten Monaten mehrfach versucht – erfolglos.