Gewichtskontrolle
Erdogan sind die Türken zu dick
Die Türkei steht in Europa an der Spitze der Länder mit Übergewicht. Die Regierung schickt deshalb Gewichtskontrolleure unters Volk.

© imago/Liesa Johannssen
Ein Händler in Istanbul: Die Regierung Erdogan will ihren Landsleuten an die Pfunde.
Von Gerd Höhler
Die Inspekteure lauern auf türkischen Einkaufsstraßen und im Park, an der Bushaltestelle, vor der U-Bahn-Station oder am Eingang zum Fußballstadion. Sie winken Personen heran, die ihnen übergewichtig erscheinen. Dann geht es auf die Waage. Die Körpergröße wird gemessen, das Alter erfragt. So stellen die Kontrolleure den Body-Mass-Index (BMI) fest. Er berechnet sich aus dem Verhältnis des Körpergewichts in Kilogramm und der Körpergröße in Metern zum Quadrat.
Wer auf einen BMI von 25 oder mehr kommt, wird zum nächsten Gesundheitsamt geschickt. Dort bekommt er Hinweise zum Abnehmen. Die Kampagne mit dem Motto „Lerne Dein Gewicht kennen, lebe gesund“ begann in der Türkei am 10. Mai und soll bis zum 10. Juli laufen. In diesem Zeitraum will das Gesundheitsministerium in allen 81 Provinzen des Landes rund zehn Millionen Menschen wiegen und messen. Das wäre jeder achte Einwohner.
Viele Türken sind offenbar zu dick
Für die Reihenuntersuchungen gibt es einen Grund. Die Türkei gehört nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zu den Ländern mit der am schnellsten wachsenden Zahl fettleibiger Menschen. Professor Mehmet Cindoruk, Präsident der türkischen Gastroenterologischen Gesellschaft, beziffert ihren Anteil an der Bevölkerung auf etwa 30 Prozent. Die WHO nennt sogar 32 Prozent. Das wäre fast das Doppelte des EU-Durchschnitts, der bei 17 Prozent liegt. Als normalgewichtig gelten Menschen mit einem BMI von 18,5 bis 24,9. Bei 25 beginnt das Übergewicht, bei 30 die Fettleibigkeit.
Die Prognose für die Türkei sieht nicht gut aus. Die WHO erwartet, dass bis zum Jahr 2060 94 Prozent der Bevölkerung übergewichtig oder fettleibig sein werden, gegenüber 70 Prozent im Weltdurchschnitt. Umso wichtiger erscheint es, frühzeitig zu dem Thema aufzuklären. Auch der Gesundheitsminister Kemal Memisoglu hat sich bereits öffentlich wiegen lassen. Dabei stellte sich heraus, dass er beim BMI den Grenzwert von 24,9 nicht einhalten kann. „Ich bin wohl etwas drüber“, sagte der Minister. Er will sich jetzt eine Diät verordnen und mehr spazieren gehen.
Breite Kritik in den Sozialen Medien
Obwohl es um eine gute Sache geht, stößt die Kampagne in den Sozialen Medien auf breite Kritik. Viele übergewichtige Menschen fühlen sich durch das Wiegen in der Öffentlichkeit diskriminiert. Andere fürchten Konsequenzen, wenn sie versuchen sollten, sich den Kontrollen zu entziehen. Das Gesundheitsministerium hat bisher nicht klar gesagt, ob die Teilnahme freiwillig ist. Manche sehen in der Kampagne eine neue Zwangsmaßnahme der Regierung Erdogan, die, Kritikern zufolge, ohnehin übergriffig ist.
Auf X schrieb eine Nutzerin, der Gesundheitsminister solle sich lieber um „hungrige Rentner und Geringverdiener kümmern, die auf der Suche nach einer Mahlzeit durch die Straßen wandern“. Der Mindestlohn, mit dem etwa sechs von zehn Lohnempfängern in der Türkei auskommen müssen, liegt unter der statistischen Armutsschwelle.
Die bekannte Psychiatrie-Professorin Gökben Hizli Sayar berichtete in einem sozialen Netzwerk, sie sei neulich am Üsküdar-Platz in eine Gewichtskontrolle geraten. Nach einigem Hin und Her hätten die Kontrolleure sie gehen lassen, so Sayar. Sie sei dann anderen Passanten entgegen gegangen, um sie vor dem Kontrollposten zu warnen, so wie man als Autofahrer Entgegenkommende mit der Lichthupe vor einem Blitzer warnt. „Wir Dicken müssen solidarisch sein“, postete die 50-Jährige.