Es mangelt nicht nur an Mikrochips

Man kann durchaus von einer Lieferkrise sprechen, die derzeit im industriellen Bereich für arge Probleme sorgt. Der Autohandel ist aktuell besonders betroffen. Wir haben mit Händlern aus der Region gesprochen, wie sie die Situation bewerten.

Nicht jede Lücke in den Neuwagenreihen der Autohäuser ist der Lieferkrise geschuldet. Davon betroffen sind aber alle Händler. Foto: A. Becher

© Alexander Becher

Nicht jede Lücke in den Neuwagenreihen der Autohäuser ist der Lieferkrise geschuldet. Davon betroffen sind aber alle Händler. Foto: A. Becher

Von Bernhard Romanowski

Rems-Murr. „Wir backen kleinere Brötchen, aber wir backen Brötchen“, kommentiert Lothar Buchfink den akuten Materialmangel, unter dem die Autobranche derzeit besonders arg zu leiden hat. Buchfink baut indessen keine Autos, er verkauft sie vielmehr. Sein Autohaus in Backnang ist auf die Marke Mazda spezialisiert und auch dort kann man derzeit ein Lied vom Materialmangel im Industriebereich singen.

„Nicht zuletzt der Chipmangel schlägt auch bei uns voll durch“, so Buchfink. Zum Anfang der Coronapandemie seien die Lagerhallen der Autobauer noch voll gewesen. Mittlerweile wurden die Neuwagen alle abverkauft, erklärt der Backnanger Händler. Jetzt bestehen längere Lieferzeiten. „Aber wir liefern keine halben Fahrzeuge aus“, sagt Buchfink und meint damit den unbedingten Anspruch seiner Marke, den Kunden die Neufahrzeuge so übergeben zu wollen, wie sie die Autos bestellt haben. Also so, dass nicht beispielsweise ein Navigationsgerät fehlt und erst nachträglich geliefert wird. Auf die Preisgleitklausel wird laut Buchfink bei Mazda derzeit verzichtet. Eine nachträgliche Preissteigerung, etwa weil sich die Kosten des Herstellers erhöht haben, finde also nicht statt: „So wollen wir lange Gesichter vermeiden.“

Die längeren Lieferzeiten könnten seinen Kunden sogar zum Vorteil gereichen, meint Buchfink. Wenn nämlich ein bestelltes Fahrzeugmodell im Zuge der sogenannten Modellpflege während der Lieferzeit optische und technische Überarbeitungen – neue Motorvarianten oder Ähnliches –erfährt, erhalten die Kunden dieses Modell mit den Neuerungen, aber ohne einen Aufpreis zu zahlen. Buchfink: „Die Kunden bekommen also ein besseres Fahrzeug zum gleichen Preis.“ Recht gelassen betrachtet Max Lorinser die Lage als Mercedes-Händler in Waiblingen und Winnenden sowie als Toyota-Händler in Backnang. Verlängerte Lieferzeiten seien gegeben, räumt er ein. Aber eben nicht bei jedem Modell. Er sieht darin „kein exorbitantes Problem“ für sich, wie er sagt. Seine Vermutung ist, dass die Hersteller ihr Augenmerk zuletzt sehr stark auf den Bereich Elektro gelegt haben und auch mehr in diesen Bereich investieren. Dass die Preise für Gebrauchtwagen gestiegen sind, führt er darauf zurück, dass viele Kunden lieber ein nicht zu altes Gebrauchtfahrzeug kaufen als unbestimmte Zeit auf einen Neuwagen warten zu müssen.

Als „ganz schlimm“ stuft Rudi Beck vom gleichnamigen Autohaus in Althütte den Materialmangel ein. Auf seine Nachfrage nach bestimmten Oldtimerteilen in China hat er seit Februar noch keine Antwort bekommen. „Das wird sonst innerhalb von vier Wochen geliefert“, so der Citroën-Händler. Beim Konzern Stellantis, zu dem auch die Marke Citroën gehört, sei die Produktion von rund einer Million Autos ins Stocken geraten und man gehe davon aus, dass sich die Lieferkrise mindestens bis Mitte nächsten Jahres ziehe, berichtet Beck. Auf manches Modell müsse man anderthalb Jahre warten. Für ihn selbst bedeutet das: „Ich muss weiter fahren, war zuletzt in Kassel, sogar in Bremen, um ein bestimmtes Fahrzeug für Kunden zu besorgen.“ Künftig werde er dann wohl europaweit nach Autos suchen müssen. „Auf die große Politik kann man jetzt nicht mehr gucken. Man kann nicht auf irgendetwas warten“, erklärt Beck. Auch Schuldzuweisungen bringen ihm zufolge nichts: „Die Lieferkette ist aus dem Tritt geraten. Außerdem können wir ohne China nicht mehr. Und die Chinesen versorgen jetzt erst einmal den eigenen Markt.“

Der Trend zur immer billigeren Produktion habe seinerzeit zur Verlegung der Fabriken in Länder mit jeweils immer niedrigeren Lohnkosten geführt. Jetzt sei zu befürchten, dass es in zehn Jahren keinerlei Großproduktion industrieller Art mehr in Deutschland geben werde, so Beck. Dass ein akuter Mangel an Material besteht, bestätigt auch Thomas Brunold, der in seiner Backnanger Filiale Autos der Marke Jeep, Alfa Romeo und Fiat verkauft. „Da kommt noch was auf uns zu. Der Lieferengpass betrifft Zulieferer in allen Bereichen“, mahnt Brunold. Just-in-time-Geschäfte, bei denen die benötigte Ware zeitlich und die Menge betreffend quasi auf den Punkt produziert und geliefert wird, um die Lagerhaltung so gering wie möglich zu halten, stellen die Akteure vor ein gewaltiges Problem.

So mancher Zulieferer werde dadurch in arge Bedrängnis kommen, fürchtet Brunold. „Das ist wie vor 35 Jahren. Da bestand eine ähnliche Situation.“ Es mangele ja auch nicht allein an Mikrochips. Beim einen Auto fehle beispielsweise ein Navi, beim anderen ein Scheinwerfer. Er geht davon aus, dass die Produktion in vielen Industriezweigen coronabedingt reduziert oder auch gestoppt wurde und nun erst wieder richtig anlaufen muss. Zudem sei nicht nur die Autoindustrie involviert, sondern es seien auch andere Märkte betroffen, die ebenfalls mit Material bedient werden wollen.

Diesen Punkt bestätigt auch Markus Beier. Es sei zurzeit auch eine Art Klopapiereffekt zu beobachten, sagt der Geschäftsführer des Bezirks Rems-Murr der Industrie- und Handelskammer: Wenn davon die Rede ist, dass bestimmte Dinge rar werden könnten, werden genau diese Dinge verstärkt nachgefragt. Kunststoffgranulate, Kupferlitzen, Holz und Papier werden laut Beier gerade knapp. Manche Unternehmen seien noch in Kurzarbeit, andere melden sie wieder an, auch weil die Planungssicherheit fehle. Im Gegensatz zu Ländern wie China sei man in Europa nach dem Höhepunkt der Coronapandemie „noch lange mit angezogener Handbremse unterwegs gewesen“. Manche Unternehmen überlegten nun mit Blick auf internationale Lieferstörungen, kritische Bauteile wieder in Europa einzukaufen. Derzeit kommen laut Beier einige negative Effekte zusammen, aber er hofft auf Besserung im Laufe des Jahres 2022.

Deutlich weniger Neuzulassungen im Rems-Murr-Kreis

Neuwagenmangel Über 162000 Besitzumschreibungen wurden bis 30. September in der Region Stuttgart notiert. Fast 10000 Autos fehlen zum Vorjahr. Im Rems-Murr-Kreis allein fehlen derzeit über 900 Neuwagen und über 1100 Besitzumschreibungen im Vergleich zum Vorjahr.

Septemberzahlen Die Zahlen des Septembers im Rems-Murr-Kreis: Die 946 Neuzulassungen bedeuten ein Minus von 34,7 Prozent. Von den Neuzulassungen sind 226 Elektroautos (Vormonat 157), 145 Plug-in-Hybride (167), 124 Vollhybride (141), 141 haben Diesel- und 310 Autos haben Benzinmotoren oder nutzen andere Treibstoffarten wie Flüssiggas- und Erdgasmotoren. Zusammengerechnet wurden in den ersten drei Quartalen damit 10092 Autos neu zugelassen. Vor einem Jahr waren es 11009. Das ist ein Rückgang von 917 Wagen oder 8,3 Prozent.

Chipkrise Reiner Äckerle (Rems-Murr-Kraftfahrzeuginnung): „Der noch vergleichsweise niedrige Gesamtrückgang liegt daran, dass März und April mit einem Zuwachs von 26 und fast 123 Prozent phänomenal liefen.“ Dann schlug die Chipkrise zu. Bei den Besitzumschreibungen notiert die Zulassungsstelle im September 2958 Halterwechsel. Das sind 500 weniger als im Vorjahr: ein Minus von 14,5 Prozent. Dieses Jahr kamen im Kreis bisher 26719 Besitzumschreibungen zusammen – über 1100 (4,1 Prozent) weniger als 2020. teb

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Erstellt:
26. Oktober 2021, 06:00 Uhr

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