Die EU unter Druck
Europa erhält US-Scheidungsurkunde
Die EU steht nicht nur aus Moskau und Peking unter schwerem Beschuss, jetzt kommt auch noch Washington hinzu. Die Union muss sich jetzt reformieren. Eine Analyse
© Kay Nietfeld/dpa
Die „Koalition der Willigen“ zeigte Präsenz in der Ukraine. Friedrich Merz (von links), Emmanuel Macron, Wolodymyr Selenskyj, Keir Starmer und Donnald Tusk bei ihren symbolträchtigen Besuch in Kiew.
Von Knut Krohn
Die Europäer sind geschockt – wieder einmal. Die USA haben die Grundzüge ihrer Nationalen Sicherheitsstrategie veröffentlicht und das Papier liest sich aus europäischer Sicht wie eine Scheidungsurkunde. Amerika sieht sich nicht mehr als Schutzmacht des alten Kontinents, ja nicht einmal mehr als verlässlicher Verbündeter. Washington definiert seine Rolle inzwischen als die eines distanzierten Vermittlers für einen siechenden Kontinent. Die USA wähnen sich in einer neuen Welt, in der vor allem Stärke zählt.
Ständige Angriffe aus den USA
Erstaunlich ist das Erstaunen der Europäer angesichts dieser rüden Analyse aus dem Weißen Haus, denn die Anfeindungen aus den USA sind inzwischen inflationär. Die Rede des US-Vizepräsidenten J.D. Vance auf der Münchner Sicherheitskonferenz über die angeblich bedrohte Meinungsfreiheit klingt noch in den Ohren. In Erinnerung ist auch der Streit über die US-Zölle. Dem folgte am Wochenende die Forderung des US-Tech-Milliardärs Elon Musk, die EU einfach zu zerschlagen. Dessen Zorn richtet sich auf eine Geldbuße aus Brüssel von 120 Millionen Euro gegen seinen Online-Dienst „X“. Vorgeworfen wird ihm die fehlende Transparenz der Plattform, Rückendeckung bekommt der Tesla-Gründer von J.D. Vance und US-Außenminister Marco Rubio, die der EU „Zensur“ vorwerfen.
Die Kluft zwischen den USA und Europa tut sich allerdings nicht erst seit dem Amtsantritt von Donald Trump auf. Der aktuelle US-Präsident treibt den Keil nur ungewöhnlich brutal, rücksichtslos und schnell in eine Liebesbeziehung, die seit Jahrzehnten schwere Schlagseite aufweist. Selbst der hierzulande fast abgöttisch verehrte Barack Obama sah die zukünftigen Herausforderungen und Chancen der USA im pazifischen Raum. Anders als Donald Trump verpackte er die Hinweise auf das gegenseitige Auseinanderleben aber in schöne Worte, deren bittere Botschaft in Europas Hauptstädten beharrlich ignoriert wurde – zu süß und bequem war das Leben im Schutze des mächtigen Washingtons.
Europa wird bedroht von drei Seiten
Europa findet sich inzwischen in einem Albtraum wieder, bedroht von drei Seiten: wirtschaftlich von China, militärisch von Russland und politisch von den USA. Allerdings blickt Brüssel natürlich nicht tatenlos in den drohenden Abgrund. Die meist eher folgenlosen Treffen der EU-Minister aus den verschiedenen Ressorts reihen sich wie auf einer unaufhörlichen Perlenschnur und die Produktion von juristisch exakt ausformulierten Absichtserklärungen der EU-Kommission läuft auf Hochtouren. Zur selben Zeit dreht sich die neue Welt aber schneller, als das alte Europa überhaupt reagieren kann. Während China, Russland und die USA durch konsequentes Umsetzen politischer Entscheidungen immer neue Fakten schaffen, befindet sich die EU mit ihrem schwerfälligen Apparat in einer Art rasendem Stillstand.
Fatal ist in dieser tiefen Krise, dass kein europäischer Politiker in der Lage scheint, die notwendige Führung zu übernehmen. Diese Rolle würde dem deutschen Kanzler zufallen, aus dem wirtschaftlich größten und politisch einflussreichsten Land. Doch nach einem starken Start hat es Friedrich Merz auch auf europäischer Ebene bei vielen Ankündigungen und wenigen Taten belassen. Spektakulär war das Bild, als er sich Mitte Mai mit dem Polen Donald Tusk, dem Franzosen Emmanuel Macron und dem Briten Keir Starmer auf den Weg in die angegriffene Ukraine machte. Die vier Staatsmänner zeigten sich entschlossen Schulter an Schulter auf dem Maidan in Kiew, passiert ist danach wenig, was ihnen den beißenden Spott aus Moskau einbrachte.
Erneu ein Treffen der Koalition der Willigen
Am Montag wird sich diese Koalition der Willigen nun in London erneut treffen. Merz, Starmer und Macron wollen mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj über die laufenden US-Vermittlungsbemühungen für ein Ende des Krieges beraten. „Wir müssen weiterhin Druck auf Russland ausüben, um es zum Frieden zu zwingen“, betont der französische Präsident im Onlinedienst „X“. Solche markigen Sätze klingen angesichts der europäischen Zögerlichkeit aber hohl.
Ähnliches hatte auch Friedrich Merz am Freitagabend bei einem überstürzt angesetzten Treffen mit dem belgischen Premier Bart de Wever gesagt. Der Regierungschef aus Brüssel stellt sich quer, das beim belgischen Finanzinstitut Euroclear verwalteten russische Zentralbankvermögen für die Finanzierung des ukrainischen Abwehrkampfes zu nutzen. Er verweist auf die rechtlichen und finanziellen Risiken und warnt davor, Russland unnötig zu reizen. Diese Einwände sind berechtigt, und der Kreml tut alles, um die Diskussion darüber mit immer neuen Drohungen zu befeuern.
Die EU muss sich dringend reformieren
Will aber die EU das eigene Überleben absichern, kann sie sich ihre Politik weder aus Moskau noch Washington oder Peking diktieren lassen.
