Expertin zu Missbrauch: Versäumnisse bei Familiengerichten

dpa Münster/Köln. Am Ende müssen Richter entscheiden, ob Kinder zu ihrem Wohl aus Familien geholt werden. Im Vorfeld des Missbrauchsfalls Münster gab es für diesen Schritt keine Gründe, entschied das Familiengericht. Eine Expertin übt Kritik.

Einer der Tatorte im aktuellen Missbrauchsfall, eine Kleingartenanlage in Münster. Foto: Marcel Kusch/dpa

Einer der Tatorte im aktuellen Missbrauchsfall, eine Kleingartenanlage in Münster. Foto: Marcel Kusch/dpa

Massive Versäumnisse und Wissensdefizite beim Thema sexueller Gewalt gegen Kinder sieht eine Expertin bei den Familiengerichten.

„Es kommt bei sexualisierter Gewalt viel zu häufig vor, dass wir eine Zwangsbelassung von Kindern in familiären Gewaltsituationen haben, weil Familiengerichte falsche Entscheidungen fällen“, sagte Ursula Enders der Deutschen Presse-Agentur. Sie ist Traumaberaterin und Leiterin der Informationsstelle gegen sexuellen Kindesmissbrauch Zartbitter in Köln. Die Richter an den Familiengerichten seien nicht ausreichend fortgebildet und könnten häufig die Traumafolgen von kindlichen Opfern sexueller Gewalt nicht richtig einschätzen.

„Sie wissen vielfach nicht, dass Kinder, die massive Gewalt erleben, diese Erlebnisse durch den Loyalitätskonflikt, in dem sie stecken, abspalten und bei Besuchskontakten strahlend auf Täter zulaufen können.“ Es komme sogar immer wieder vor, dass Familiengerichte der Bindung wegen weitere Besuchskontakte anordnen würden. „Dadurch wird das Geschehen immer wieder reaktiviert. Eine Verarbeitung des Traumas ist dann gar nicht möglich“, sagte Enders.

„Alleine das Jurastudium qualifiziert bei uns zum Familienrichter. Doch es braucht hier viel tiefere Kenntnisse. Es kann ja nicht sein, dass engagierte Richterinnen und Richter es selbst in die Hand nehmen, sich entsprechend zu qualifizieren“, sagte Enders.

Im Missbrauchsfall Münster war bekannt geworden, dass das Jugendamt der Stadt Münster seit Jahren Kontakt zur Familie eines der Opfer hatte. Das Amtsgericht in Münster hatte Ende 2015 entschieden, dass kein Eingriff notwendig ist. Das Jugendamt hatte in der Folge weiter Kontakt zur Mutter, zum Kind und zum heute Haupttatverdächtigen, die nicht in einem Haushalt lebten. Auch nach 2016 gab es aus Sicht der Stadt keinen Grund, einzugreifen. Demnach gab es aus dem sozialen Umfeld bis heute keinen Hinweis auf eine mögliche Gefährdung oder auf Auffälligkeiten des Kindes.

Wie jetzt bekannt wurde, soll der Hauptverdächtige (27) im Missbrauchsfall Münster unter anderem den zehnjährigen Sohn seiner Lebensgefährtin anderen Männern zum schweren sexuellen Missbrauch angeboten und die Taten gefilmt und verbreitet haben. 2016 und 2017 war er wegen des Besitzes und der Verbreitung von Kinderpornografie zu Bewährungsstrafen verurteilt worden.

Nach Einschätzung des Leiters der nordrhein-westfälischen Stabsstelle gegen Kindesmissbrauch, Ingo Wünsch, markiert der Missbrauchsfall in Münster verglichen mit den beiden Fällen Lügde und Bergisch Gladbach eine neue Stufe krimineller Energie. „Und wir sind noch lange nicht am Ende dessen, was vorstellbar ist, davon bin ich leider überzeugt. Im Fall Münster rechne ich daher weiter mit dem Unvorstellbaren“, betonte er“, sagte Wünsch der „Rheinischen Post“ (Dienstag). Alle drei Fälle seien monströs und zeigten ein Verhalten von Menschen, das „unmenschlich und für den Normaldenkenden unvorstellbar“ sei.

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Erstellt:
9. Juni 2020, 08:28 Uhr

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