Flüchtlinge im Naturfreundehaus Sechselberg untergebracht

Die Naturfreunde Backnang haben einen neuen Pächter für das Naturfreundehaus in Althütte-Sechselberg gesucht und gefunden. Das Landratsamt bringt dort seit April ukrainische Flüchtlinge unter. Drei Ukrainer erzählen von ihren Erlebnissen und ihrer jetzigen Situation.

Das Landratsamt pachtet seit Mitte März das Naturfreundehaus Sechselberg. 28 Menschen wohnen dort zur Zeit. Foto: Stefan Bossow

© Stefan Bossow

Das Landratsamt pachtet seit Mitte März das Naturfreundehaus Sechselberg. 28 Menschen wohnen dort zur Zeit. Foto: Stefan Bossow

Von Anja La Roche

Althütte. „Wir haben hervorragend gewohnt“, erzählt die Ukrainerin namens Lena. Dass dann Krieg ausgebrochen ist, war für sie doppelt schlimm, weil ein Teil ihrer Verwandtschaft aus Russland kommt. „Am Anfang habe ich mich immer beruhigt, dass es nur ein Missverständnis ist.“ Die 54-Jährige, die ihren Nachname nicht nennen möchte, hat in Kiew in einer PR-Agentur gearbeitet, ihr 50-jähriger Ehemann Sergeii war dort im Handel tätig. Jetzt wohnen sie im Haus der Naturfreunde Backnang in Althütte-Sechselberg, zusammen mit 28 weiteren ukrainischen Kriegsflüchtlingen.

Lena gestikuliert mit ihren Händen, um ihre traurigen Worte zu unterstreichen. Sie hat mit ihrem Mann in einer Kleinstadt in der Nähe von Kiew gewohnt. Dann kamen die Raketen und die russischen Soldaten. Das Ehepaar hatte Glück im Unglück: Anders als bei vielen Bekannten und Freunden von ihnen erreichten die Angreifer weder ihr Zuhause noch das Ferienhaus bei Kiew, in welchem sich Lena zu dem Zeitpunkt aufhielt, als die russischen Soldaten rund um sie herum plünderten, mordeten und vergewaltigten.

„Man konnte nicht schlafen und nicht essen.“

Nach einem Monat konnte Lena das Ferienhaus verlassen und zu ihrem Mann zurückkehren. Die Infrastruktur war völlig zerstört, es gab etwa keinen Netzempfang und keinen Strom mehr. Trotzdem wollte Lena zunächst bleiben. Aber irgendwann ging es nicht mehr. „Man konnte nicht schlafen und nicht essen“, beschreibt sie, wie die Situation sie psychisch belastete. Als sie auf einem Auge nicht mehr sehen konnte, aber keine medizinische Hilfe fand, haben Sergeii und Lena ihre Sachen gepackt und sind mit dem Auto über Polen nach Deutschland gefahren. Nach drei Wochen in einem Lager in Freiburg und zwei Wochen in einem weiteren in Waiblingen kamen sie schließlich am 1. Juni ins Naturfreundehaus. Seitdem teilen sie sich dort „ein kleines, gemütliches Zimmer.“

Der Pachtvertrag vom Landratsamt ist bis April 2023 befristet

Seit März pachtet das Landratsamt Rems-Murr-Kreis die Räumlichkeiten der Naturfreunde Backnang für die Unterbringung von Geflüchteten, „für einen sehr humanen Preis“, sagt Peter Müller, der im Vereinsvorstand ist. Zunächst ist der Vertrag noch bis April befristet, aber wenn der Bedarf weiterhin da ist, könnte er verlängert werden. Darüber gebe es im Verein bereits Diskussionen. Für die Freizeiten für Kinder aus Tschernobyl brauchen sie das Haus zumindest nicht mehr (siehe Infotext). Die Naturfreunde sind aber mehr als Verpächter. Zum Beispiel haben sie den Ukrainern für den Winter notwendige Wäschetrockner organisiert. „Das Problem ist, dass das Landratsamt überfordert ist“, sagt Müller.

Von den 14 in dem Vereinshaus untergebrachten Kindern gehen sieben zur Schule, die anderen sind noch zu klein. Neben den drei Familien und den Paaren leben dort auch Einzelpersonen, zum Beispiel der 33-jährige Hermann. Viele Freunde von ihm sind im Krieg gefallen. „Ich habe den Krieg zum Glück nicht erlebt“, sagt Hermann. In Kiew hat er beruflich Webseiten für eine Firma konzipiert. Gemeinsam mit den Mitarbeitern des Betriebs ist er nach Polen geflohen, wo er noch drei Monate weitergearbeitet hat.

Dann ist Hermann alleine weiter nach Deutschland gereist. Er ist dankbar für die Unterkunft. Aber dass er sich nun ein Zimmer mit einem Mann teilen muss, nachdem er 15 Jahre alleine gelebt hat, ist nicht leicht für ihn. In der Ukraine hat Hermann viele Freunde und Verwandte zurückgelassen. „Wenn der Krieg vorbei ist, werde ich zuerst nach ihnen sehen.“ Ein neues Leben will er sich aber in Deutschland aufbauen. „Ich will die Sprache lernen und in meinem Beruf arbeiten.“

Die Wohnverhältnisse sind zu eng

Sicherlich gibt es schlechtere Unterbringungen als das Naturfreundehaus. In der ehemaligen Gaststätte können die Küche und der große Tisch genutzt werden; die ehemaligen Betreuerzimmer darüber und die Zimmer in der Herberge neben dem Hauptgebäude haben die Geflüchteten selbst unter sich aufgeteilt. Aber besonders für die großen Familien seien die Wohnverhältnisse sehr beengt, sagt eine der ehrenamtlichen Helferinnen. Ein Ehepaar mit acht Kindern muss sich zum Beispiel ein Zimmer teilen. Besonders jetzt im Winter, wenn die Kinder nicht draußen spielen, sei das unzumutbar. Ein weiteres Manko ist, dass das Gebäude schlecht an die Stadt und an Einkaufsläden angebunden ist.

Anwar Nakkar ist Integrationsmanager und Sozialberater der Caritas Ludwigsburg-Waiblingen-Enz, die auch im Rems-Murr-Kreis agiert. Zweimal pro Woche schaut er nach dem Rechten im Naturfreundehaus. „Es ist gerade eine schwierige Situation im Land“, sagt er, der selbst vor ein paar Jahren nach Deutschland geflüchtet ist. „Hier sehe ich aber, dass die Leute in Freude zusammenleben.“ Er versucht, den Ukrainern etwa bei ihren Terminen zu helfen. Schwierigkeiten bereite dabei die Kommunikation, denn nur eine Person kann Englisch sprechen. Nakkar weiß um die psychische Last, welche die Kriegsflüchtlinge mit sich tragen. „Sie können an die Zeit glauben, langsam kommt man klar.“

Ohne Ehrenamt könnten die Ukrainer kaum betreut werden

Annika Wahl, Leiterin bei der Caritas für den Bereich Flucht und Asyl im Rems-Murr-Kreis, stellt zudem klar: „Das hier ist eine vorläufige Unterbringung.“ Und sie funktioniere nur mit ganz viel Hilfe vom Ehrenamt. „Das ist für uns letztendlich eine Arbeitserleichterung.“ Gemeint sind in diesem Fall die drei Frauen, die seit April etwa zwei bis dreimal pro Woche ins Naturfreundehaus kommen. Sie organisieren etwa Arztbesuche, die Erstausstattung bei der Kleiderkammer und Ausflüge in die nähere Umgebung. Namentlich wollen sie in der Zeitung nicht genannt werden.

Problematisch für die Ukrainer, um sich selbstständig zurecht zu finden, sei besonders die fehlenden Sprachkenntnis, sagt eine Helferin. „Aber es ist unglaublich, wie sie das immer eigenständiger hinkriegen.“ Eine vierte Person kümmert sich zudem um technische Probleme am Haus. „Für mich sind das heilige Frauen“, sagt Lena zu den Helferinnen. „Sie sind wie die Luft, weil ohne sie würden wir nicht auskommen. Wir wussten nichts von Deutschland und dank ihnen haben wir uns in das Land verliebt.“

Die Ukrainer haben ein Festessen veranstaltet

Um ihre Dankbarkeit zu zeigen, haben die Ukrainer ein Fest für die Helferinnen veranstaltet: Jedes Zimmer war für ein Gericht zuständig, den Tisch haben sie in den ukrainischen Farben gedeckt und dann stundenlang zusammen gespeist. „Wir können das wiederholen“, sagt Sergeii lächelnd.

Während Hermann sich auch ein Leben in Deutschland vorstellen kann, warten Lena und Sergeii sehnsüchtig darauf, wieder in ihre Heimat zurückkehren zu können. Doch Raketenangriffe und eine völlig zerstörte Infrastruktur machen das vorerst unmöglich. „Auch der Präsident bittet darum, dass Ausgereiste im Ausland bleiben“, erklärt Lena. „Wir wollen, dass alles gerecht ausgeht, dass das Gute gegen das Böse gewinnt“, sagt Sergeii. Unabhängig von den vielen Problemen gebe es viel Gastfreundschaft in dem Land. „Die Ukraine schützt nur ihre Menschen. Sie sollte als eigener Staat auf der Karte bestehen bleiben.“

Projekt mit Tschernobyl-Kindern

Zu wenige Betreuer Etwa 24 Jahre haben die Naturfreunde Backnang mit dem Projekt „Den Kindern von Tschernobyl“ zusammen gearbeitet. Jedes Jahr sind 20 Kinder für drei Wochen in das Naturfreundehaus in Sechselberg gekommen, um sich dort zu erholen. Aufgrund der atomaren Katastrophe in der ukrainischen Stadt im Jahr 1986 litten sie an verschiedenen Krankheiten. Die Aufenthalte können aber seit 2019 nicht mehr stattfinden. Den Naturfreunden fehlt es an Helfern. Peter Müller sagt: „Wir planen keine Freizeiten mehr, aber wir werden den Verein weiterhin finanziell unterstützen.“

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Erstellt:
2. Dezember 2022, 06:00 Uhr

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