„Flüchtlinge sind gar kein Thema mehr“

Wir schaffen das! Tatsächlich? (11 und Schluss) Im letzten Teil unserer Serie zieht Jennifer Reinert, Integrationsbeauftragte der Gemeinde Weissach im Tal, Bilanz. Sie sieht schon viele Erfolge bei der Integration, doch es gibt auch noch manche Hürden.

Jennifer Reinert betreut seit 2014 Asylbewerber in Weissach im Tal. Die Aufregung, die vor fünf Jahren in der Gemeinde herrschte, habe sich inzwischen gelegt, berichtet die Integrationsbeauftragte. Foto: A. Becher

© Alexander Becher

Jennifer Reinert betreut seit 2014 Asylbewerber in Weissach im Tal. Die Aufregung, die vor fünf Jahren in der Gemeinde herrschte, habe sich inzwischen gelegt, berichtet die Integrationsbeauftragte. Foto: A. Becher

Von Kornelius Fritz

„Wir schaffen das“, hat Kanzlerin Angela Merkel im August 2015 gesagt. Wenn Sie zurückblicken: Haben wir es schon geschafft? Wir haben viele Schritte geschafft, aber man kann noch nicht sagen, dass der Integrationsprozess bei den Flüchtlingen abgeschlossen ist, sondern wir sind mittendrin. Ein Integrationsprozess dauert viele Jahre.

In der Flüchtlingskrise sind die Emotionen hochgekocht. Es gab viel Hilfsbereitschaft, aber auch viel Hass. In Weissach hat im August 2015 eine noch nicht bezogene Flüchtlingsunterkunft gebrannt, die Brandstifter wurden nie gefunden. Wie nehmen Sie heute die Stimmung in der Bevölkerung wahr?

Sehr ruhig. Durch unser Patensystem haben wir in Weissach sehr früh persönliche Beziehungen geschaffen. Wir hatten hier viele Ehrenamtliche aus der bürgerlichen Mitte. Das war sehr gut, um Ruhe reinzubringen. Inzwischen sind Flüchtlinge in Weissach eigentlich gar kein Thema mehr. Dabei leben heute sogar mehr hier als 2015. Aber man bekommt es nicht mehr so mit, weil die Leute inzwischen hier verankert sind. Viele arbeiten, die Kinder besuchen Kindergarten oder Schule.

In unserer Serie haben wir einige positive Beispiele von geflüchteten Menschen vorgestellt, die bestens integriert sind, Deutsch gelernt haben und hier studieren. Aber es gibt auch die anderen, die noch immer kaum Deutsch können und weiterhin auf staatliche Unterstützung angewiesen sind. Woran liegt es, dass es bei manchen nicht vorangeht?

Das Problem ist oft der Bildungshintergrund. Es sind Leute dabei, die waren in ihren Herkunftsländern nie in der Schule. Das sind klassische Analphabeten, auch in ihrer Muttersprache. Und dann ist es natürlich unheimlich schwer, eine Fremdsprache zu lernen. Außerdem sind Personen dabei, die zum Teil schon seit fünf oder sechs Jahren auf Duldung hier leben. Sie haben gar keinen Zugang zu Sprachkursen.

Gibt es Nationalitäten, die sich mit der Integration leichter tun als andere?

Das kann man so nicht sagen. Ich habe aus allen Ländern Leute, die arbeiten, und welche, die nicht arbeiten. Die Frage ist eher: Was habe ich im Herkunftsland gemacht? Hat ein Mann dort gearbeitet und seine Familie ernährt, dann hat er oft auch hier das Ziel, das ganz schnell wieder zu tun. Wer in seiner Heimat nur Gelegenheitsarbeiter war und keine Ausbildung hat, tut sich auch bei uns schwer.

Welche Rolle spielen kulturelle Hürden?

Die gibt es natürlich: Manche Geflüchtete verstehen zum Beispiel nicht, warum es in Deutschland eine Schulpflicht gibt. Ich hatte Fälle, in denen Eltern ihre Kinder nicht aus dem Haus lassen wollten, wenn es geregnet hat. Bei islamischen Familien kommt es auch vor, dass die Eltern nicht wollen, dass ihre Tochter Kontakt zu deutschen Kindern hat, weil sie ihr Kind beschützen wollen. Das sind jahrhundertealte Traditionen, vor allem in ländlichen Gebieten und bildungsfernen Schichten, die man nicht so einfach aufbrechen kann. Hierfür braucht es viele Gespräche.

Sind manche auch mit falschen Vorstellungen nach Deutschland gekommen und haben gedacht, sie müssten sich hier gar nicht mehr anstrengen?

Es gibt durchaus Familien, die mit den Sozialleistungen in Deutschland sehr gut leben. Für die ist es nicht unbedingt ein Ansporn, aus unserem Leistungssystem rauszukommen. Wenn man überlegt, dass das Lebensniveau im Herkunftsland oft ganz, ganz niedrig war, dann sind unsere Sozialleistungen im Vergleich dazu sehr viel Geld. Das ist manchmal schon ein Problem.

Das heißt, es fehlt der Anreiz zu arbeiten?

Das Lohnniveau für die Berufe, in denen die meisten Flüchtlinge arbeiten, ist so niedrig, dass es in der Regel nur knapp über dem Mindestlohn liegt. Wenn man überlegt, dass die Familien oft vier bis sechs Kinder haben, kommt man damit natürlich nicht klar. Trotz Arbeit bleiben diese Familien also auf Sozialhilfeniveau. Da dreht man sich ein wenig im Kreis.

Um sich integrieren zu können, brauchen geflüchtete Menschen eine eigene Wohnung. Das ist in der Region Stuttgart aber selbst für viele Deutsche schwierig. Wie können Geflüchtete eine Bleibe finden, die nicht nur geeignet, sondern auch bezahlbar ist?

Wohnraum für größere Familien mit geringen Deutschkenntnissen zu finden, ist auf dem freien Wohnungsmarkt unmöglich. Das funktioniert nur über Beziehungen, etwa wenn einer der Paten den Vermieter kennt und sagt: „Ich kenne diese Familie seit drei Jahren. Die sind zuverlässig und sauber“. In Weissach haben wir es zum Glück geschafft, allen Familien Wohnungen zur Verfügung zu stellen. Die sind allerdings oft sehr klein und gerade jetzt in Coronazeiten überhaupt nicht geeignet, schon gar nicht fürs Homeschooling. Wir haben aber zumindest keine Sammelunterkünfte mehr.

Bekommen Geflüchtete genug Unterstützung? Immer wieder hört man, dass Menschen bestimmte Hilfen nicht bekommen, weil sie an der deutschen Bürokratie scheitern.

Ich glaube, dieses Problem gibt es vor allem in großen Städten. Hier in Weissach klappt es besser, weil ich schon seit vielen Jahren hier bin und man mich kennt. Selbst wenn jemand neu zuzieht, schleppt ihn irgendeiner zu mir und sagt: „Die Frau Reinert macht das schon.“ Ich kenne Geflüchtete, die, bevor sie nach Deutschland kamen, in ihrem ganzen Leben zwei Briefe bekommen haben. Die kommen gar nicht auf die Idee, ihren Briefkasten zu leeren. Deshalb braucht es jemanden, der sich darum kümmert. Es kommt also sehr auf das Engagement der Flüchtlingsbegleiter an, ob haupt- oder ehrenamtlich.

In der Anfangszeit gab es eine Welle der Hilfsbereitschaft. Überall gründeten sich Initiativen. Vielerorts ist das ehrenamtliche Engagement aber wieder eingeschlafen oder läuft nur noch auf Sparflamme. Woran liegt das?

Bis vor Corona lief es bei uns in Weissach wirklich gut. Da hatten wir viele Ehrenamtliche, die zur Stange gehalten haben. Durch Corona ist uns jetzt aber viel weggebrochen. Ich denke, es gibt immer bestimmte Themen, die in der Bevölkerung gerade von Interesse sind. Lange Zeit waren das die Flüchtlinge, dann kam der Klimaschutz, jetzt beherrscht Corona alles. Und es gibt eben nicht endlos Menschen, die sich ehrenamtlich engagieren wollen und können.

Brauchen die Ehrenamtlichen mehr Unterstützung durch hauptamtliche Kräfte? Wo sich Initiativen ausschließlich auf ehrenamtliches Engagement gründen, ist die Gefahr doch groß, dass sie einschlafen, wenn zum Beispiel die oder der Vorsitzende aussteigt.

Ich glaube, rein ehrenamtlich kann das gar nicht funktionieren, dafür hängt auch zu viel Verantwortung dran. Es reicht ja nicht, einmal einen Antrag auszufüllen, sondern da hängen viele Menschen dran, deren Leben geordnet verlaufen soll. Da geht es um Jobsuche, Wohnungssuche, Gesundheitsthemen – und dafür braucht man viel Zeit. Damit da keiner durchs Raster fällt, braucht es jemand Hauptamtlichen, auch als Ansprechpartner für die Ehrenamtlichen. In Weissach haben wir das deshalb im Rathaus koordiniert.

Lassen Sie uns nach vorne blicken: Was muss passieren, damit wir in fünf Jahren tatsächlich sagen können: Wir haben es geschafft.

Wir haben hier vor Ort schon viel geschafft. Die Menschen sind da, sie leben hier ihren Alltag. Wir haben wenige bis gar keine Probleme mit den Geflüchteten. Ich denke, das ist ein großer Schritt. Es wird aber sicher Erwachsene geben, die auch in fünf Jahren noch kein Deutsch auf B-2-Niveau sprechen oder in Vollzeit arbeiten. Wichtig finde ich, dass wir vor allem auf die Kinder schauen, damit alle einen Schulabschluss und eine Ausbildung schaffen. Für jemanden, der mit 40 oder 50 erst anfängt, Deutsch zu lernen, ist es fast unmöglich, noch eine Ausbildung abzuschließen. Daher bräuchten wir mehr Berufe, in denen man niederschwellig ohne Ausbildung arbeiten kann.

Jennifer Reinert

Jennifer Reinert arbeitet seit zehn Jahren bei der Gemeinde Weissach im Tal. Angefangen hat die gelernte Finanzassistentin als Sachbearbeiterin im Amt für Soziales.

Als sich im Jahr 2014 abzeichnete, dass die Zahl der Flüchtlinge zunehmen wird, kam Bürgermeister Ian Schölzel mit der Bitte auf sie zu, die Betreuung der Neubürger zu organisieren. Dafür gründete Reinert den
Arbeitskreis Integration, in dem bis zu
30 Ehrenamtliche aktiv waren.

Im August 2014 kamen die ersten beiden Familien in Weissach im Tal an. Heute leben rund 190 Geflüchtete in der Gemeinde. Die 47-jährige Integrationsbeauftragte, die eine 60-Prozent-Stelle hat, unterstützt diese weiterhin dabei, dass sie sich in ihrer neuen Heimat zurechtfinden.

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Erstellt:
19. Dezember 2020, 06:00 Uhr

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