Italien fiebert mit seinen Schülern
Ganz Italien macht das Abitur mit
Die Reifeprüfung, im deutschsprachigen Raum eher Familiensache, ist in Italien ein gesellschaftliches Großereignis. Das Land fiebert mit seinen 524 000 Prüflingen mit.

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Nächste Woche noch muss Italien fiebern, da sind die mündlichen Prüfungen.
Von Dominik Straub
Am Tag nach der ersten Prüfung, dem Italienisch-Aufsatz, widmete der „Corriere della Sera“ der „maturità“, wie die Abiturprüfungen in Italien genannt werden, zwei ganze Seiten und ein großes Foto auf der Frontseite. Auch in der Hauptausgabe der Tagesschau des Staatssenders RAI waren die Prüfungen groß Thema, fast so wichtig wie der Krieg im Nahen Osten. Am Freitag, nach den Prüfungen in Latein und in Mathematik, war das Medienecho noch einmal enorm.
Das Abi ist im Belpaese ein nationaler Großevent. Es gibt auch einen bekannten Schlager von Antonello Venditi, der sich mit der „Nacht vor den Examen“ (La Notte Prima degli Esami“) beschäftigt, ebenso einen gleichnamigen Film des Regisseurs Fausto Brizzi.
In keinem Medium fehlen durfte in diesem Jahr Andrea Kimi Antonelli: Der 18-jährige Formel-1-Pilot ist am vergangenen Wochenende beim GP von Kanada für Mercedes erstmals aufs Podest gefahren und legt nun in seiner Schule in der Nähe von Bologna die Reifeprüfung ab. „Vor dem Italienisch-Aufsatz bin ich nervöser gewesen als ich es vor den Rennen bin“, gab Antonelli offen zu.
Enormes Medienecho
Aber auch ohne Formel-1-Wunderkind lösen die Abiturprüfungen in Italien jedes Jahr eine beträchtliche Leidenschaft aus. Die Medien berichten schon Wochen im Voraus über das bevorstehende Ereignis, breiten Zahlen und Statistiken aus. So erfuhr man unter anderem, dass in diesem Jahr 524 415 Schülerinnen und Schüler aus 27 698 Klassen zu den Prüfungen zugelassen wurden. Dazu muss man wissen, dass im titelversessenen Italien - jeder vierte Erwachsene ist Präsident von irgendetwas - nicht nur Gymnasiasten, sondern auch die Studenten von höheren technischen Schulen und von Berufsschulen die Prüfungen zur Erlangung der „maturità“ ablegen.
Die mit Abstand prestigeträchtigste schulische Ausbildung in Italien ist und bleibt die am „Liceo Classico“, also am altsprachlichen Gymnasium mit seinen obligatorischen Fächern Latein und Altgriechisch. So gut wie alle Regierungschefs der letzten Jahrzehnte hatten ihre „maturità“ an einem solchen Gymnasium erworben. Das vermag in einem Land, in dem man fast überall auf antike Überreste stößt und das von Kulturgütern überquillt, nicht weiter zu verwundern. Auf eine möglichst breite humanistische Bildung wird aber nicht nur am „Liceo Classico“ Wert gelegt, sondern auch in allen anderen Abteilungen.
Cicero ist der Evergreen
So hat das Bildungsministerium in diesem Jahr das Kunststück fertiggebracht, den berühmten Redner, Schriftsteller, Philosoph und Politiker des alten Roms, Cicero, nicht nur in der Lateinprüfung am „Liceo Classico“ unterzubringen, sondern auch in der Mathematikprüfung am „Liceo Scientifico“, der mathematisch-naturwissenschaftlichen Abteilung: Gefragt wurde nach der Wahrscheinlichkeit des von Cicero erwähnten „Wurfs der Venus“ in einem antiken Würfelspiel.
Cicero ist ohnehin Rekordhalter bei den Abitur-Fragen in Italien. Seine Texte und Thesen kamen seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs schon in 17 Aufgaben vor. Platz zwei belegt der Philosoph und Dramatiker Seneca mit 16 Aufgaben.
Das Punktemaximum bei den italienischen Abi-Prüfungen beträgt übrigens 110 Punkte. Je 20 Punkte können bei den beiden schriftlichen Prüfungen erzielt werden, weitere 20 bei der sechs Stunden dauernden mündlichen Prüfung, in welcher alle Fächer abgefragt werden. Außerdem können die Prüfungsexperten bei besonders herausragenden Leistungen noch zweimal einen Bonus von 5 Punkten vergeben. Maximal 40 Punkte nehmen die Abiturienten aus den drei letzten Zeugnissen mit. Die beiden schriftlichen Prüfungen haben die 524 415 Prüflinge nun hinter sich, nächste Woche folgt noch die mündliche. Danach geht es in die wohlverdienten Sommerferien.