Gemeinsam gegen die Sucht ankämpfen

Teilnehmer einer Selbsthilfegruppe erzählen von ihrer Alkoholabhängigkeit – Bundesweite Aktionswoche Alkohol bis zum 26. Mai

Menschen treffen, die dieselben Probleme kennen, die wissen, wovon sie sprechen, und die Verständnis haben, ohne zu verurteilen: Das ist die Idee, die hinter eine Selbsthilfegruppe für Suchtkranke steckt. Zur Aktionswoche Alkohol haben wir die Selbsthilfegruppe des Kreuzbunds in Backnang besucht.

Nein sagen: Alkohol ist in der heutigen Zeit allgegenwärtig. Das macht es für Süchtige nicht gerade einfach, ihm zu „entkommen“. Foto: Adobe Stock

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Nein sagen: Alkohol ist in der heutigen Zeit allgegenwärtig. Das macht es für Süchtige nicht gerade einfach, ihm zu „entkommen“. Foto: Adobe Stock

Von Silke Latzel

BACKNANG. Ein Freitagabend in Backnang: Manche Menschen läuten vielleicht schon das Wochenende ein, machen es sich vielleicht zu Hause mit einer Flasche Feierabendbier gemütlich, genießen beim Italiener um die Ecke einen kräftigen Rotwein zur Pizza oder bereiten sich mit Freunden und einer Flasche Sekt auf die kommende Party vor. Nicht so Herr L. (alle Namen sind der Redaktion bekannt). Zu diesem Zeitpunkt sitzt er mit acht anderen – einer Frau und sieben Männern – in einem kleinen Raum in der Albertstraße und spricht über seine Alkoholsucht. L. ist im Rentenalter und seit drei Jahren trocken. Er sagt: „Wir sind süchtig und wir bleiben süchtig – ein Leben lang. Denn es gibt ja kein Medikament gegen unsere Sucht.“

Trocken – das bedeutet nicht, kein Alkoholiker mehr zu sein, erklärt er. „Wir haben nur aufgehört, zu trinken.“ Ein Alkoholiker, der trinkt, wird im Umkehrschluss als „nass“ bezeichnet. Jeder der Anwesenden hat den Weg in die Selbsthilfegruppe für Suchtkranke des Kreuzbunds gefunden, weil er für sich selbst beschlossen hat, dass es so nicht mehr weitergehen kann. Manchmal hat die Sucht ihre Persönlichkeit verändert, im Rausch wurden sie gewalttätig, hatten sich nicht mehr unter Kontrolle. So wie der noch ziemlich junge Herr S., der heute das erste Mal hier ist. „Ich trinke nicht regelmäßig, kann auch mal Wochen ohne Alkohol. Aber wenn ich dann trinke, eskaliere ich immer, neulich habe ich die Wohnungstür meiner Eltern kaputt getreten. Und das möchte ich einfach nicht mehr, deswegen bin ich hier.“

„Die Wahrheit ist , dass es der Alkohol ist, der alles im Griff hat“

Es gibt nur wenige Regeln, an die die Teilnehmer der Gruppe sich halten müssen. Kommen darf jeder, egal wie alt, ob Mann oder Frau. Erzählen muss man nichts, man darf. Wenn man das dann tut, soll man aber über die eigenen Erlebnisse, nicht über die anderer sprechen. Meistens kennen sich die Suchtkranken nur mit Vornamen, manche sind schon 25 Jahre in der Gruppe, andere erst ein paar Monate. Es herrscht keine Anwesenheitspflicht, wer Zeit und das Bedürfnis hat zu kommen, für den steht die Tür immer offen. Wichtig auch: Nüchtern sein. „Wenn wir merken, dass jemand etwas getrunken hat, dann lassen wir das einmal durchgehen. Aber beim nächsten Mal nicht mehr. Denn für viele Süchtige ist es schon schwierig, nur den Geruch von Alkohol zu ertragen“, erklärt Gruppenleiter Karl Wacker.

„Hierherzukommen ist oft eine große Hürde. Denn zuerst sagt man immer, man braucht keine Hilfe, man hat alles im Griff. Aber die Wahrheit ist meistens, dass es der Alkohol ist, der alles im Griff hat“, so Wacker. In fast allen Geschichten, die die Suchtkranken an diesem Abend erzählen, taucht der Satz „Und dann kam ich nach Winnenden“ auf. Winnenden – das bedeutet für diejenigen, die erzählen, dass sie auf der Entgiftungsstation der „Klinik für Suchttherapie und Entwöhnung“ waren. Dort wird auf der Station C1 „eine qualifizierte, stationäre Behandlung für Patienten, die Probleme mit dem Konsum von Alkohol haben oder über ihren Konsum reflektieren möchten“, angeboten. Für viele der erste Schritt aus der Sucht, danach kommt der regelmäßige Besuch einer Selbsthilfegruppe. Hier können Süchtige offen über ihre Probleme sprechen, oftmals über sehr persönliche Dinge. Und sie treffen dabei auf Menschen, die dasselbe oder Ähnliches erlebt haben, die die Gefühle und Gedanken eines Alkoholabhängigen kennen, die wissen, wie schwer es ist, abstinent zu sein – und die in ihrem Leben vielleicht auch schon Rückschläge hinnehmen und sich wieder aufrappeln mussten. „Die Aufgabe der Menschen, die diese Gruppe besuchen, ist es, sich gegenseitig zu stützen, damit keiner wieder rückfällig wird“, erklärt Wacker. „Und dabei ist es sehr wichtig, dass hier Leute zusammensitzen, die dieselben Probleme kennen, denn nur dann trifft man auf Verständnis. Und man muss sich nicht schämen und auch nicht erklären.“

Die Sitzung der Selbsthilfegruppe beginnt damit, dass jeder erzählt, wie er sich gerade fühlt, was es so Neues gibt. Das muss nicht unbedingt mit Alkohol zu tun haben, ist aber oft trotzdem der Fall: Ärger mit dem Ehepartner aufgrund der Alkoholsucht oder der Verlust des Führerscheins sind nur ein paar Beispiele der Themen, die angeschnitten werden. Herr T. hat eine unangenehme Situation mit einem Betriebsrat seiner Firma erlebt, der von seiner Sucht weiß und ihn darauf angesprochen hat. „Ich möchte das nicht. Und ich will auch nicht, dass er mir kumpelhaft auf die Schulter klopft und sagt: ,Du packst das schon.‘ Er weiß nicht, wie das ist. Außerdem fühle ich mich beobachtet, so als würde jeder mich anschauen und raten, ob ich heute betrunken bin oder nicht“, erzählt er.

Die Gruppe diskutiert dann, jeder darf seine eigenen Erfahrungen einbringen. L. beispielsweise war selbst jahrelang Betriebsrat, bevor er in Rente gegangen ist, und sagt: „Du musst dir das nicht gefallen lassen. Geh einfach einen Schritt zurück und sag, dass du das nicht möchtest. Und wenn der andere dann vor den Kopf gestoßen ist, dann ist das sein Problem, nicht deines. Du musst in der Situation das tun, was sich für dich richtig anfühlt, nicht für dein Gegenüber.“

Den meisten, die das erste Mal kommen, falle es schwer, über die Probleme zu reden, da sind die Teilnehmer sich einig. „Es ist halt auch nicht schön und macht keinen Spaß. Aber während man mir draußen sagt ‚Jetzt reiß dich einfach mal zusammen und trink halt nichts‘, weiß ich, dass man mir hier in der Gruppe so etwas nie sagen würde. Weil jeder weiß, dass das nichts damit zu tun hat, dass ich mich nicht zusammenreißen kann“, erzählt Herr M.

Ein Problem der heutigen Zeit sei vor allem, dass der Alkohol allgegenwärtig ist, so Wacker. „Es gibt ihn überall, an der Tankstelle, im Supermarkt, im Restaurant. Das macht es sehr schwer, ihm zu entkommen. Und egal, wie lange man trocken ist, es ist immer möglich, dass am nächsten Tag ein Rückfall kommt. Aber die Antennen der Menschen, die hier in die Gruppe kommen, sind geschärft.“

„Nüchtern zu bleiben ist alles andere als leicht“

Nicht jeder Mensch sei gleich anfällig für eine Sucht: „Wenn du die Zwänge, die dir das Leben auferlegt, handhaben kannst, bist du relativ gefeit vor einer Sucht“, ist die Meinung von Herrn W. Und er muss es wissen, denn schließlich habe er „quasi alle Drogen ausprobiert, die es gibt. Und nüchtern zu bleiben, ist alles andere als leicht. Aber die Neugier auf das nüchterne Leben hält mich trocken. Ich war so viele Jahre knülle und habe gar nichts mitbekommen, jetzt finde ich unglaublich spannend, was das richtige Leben so alles bietet.“

Am Ende des rund zweistündigen Treffens, das jede Woche stattfindet, ist S. überzeugt davon, dass Abstinenz für ihn der einzig richtige Weg ist, um seine Probleme in den Griff zu bekommen. Die anderen sind beeindruckt. „Du bist heute ohne Druck von außen hierhergekommen, da ziehe ich den Hut vor dir“, sagt Herr T. „Frag dich, wieso du trinkst. Und wenn du das herausgefunden hast, dann ist das schon der Anfang“, rät W. dem jungen Mann. „So hart es auch ist, im Notfall muss man sich von Menschen trennen, die einen immer wieder zum Trinken animieren und in ihr Fahrwasser ziehen wollen“, gibt K. ihm mit auf den Weg. Und man spürt, dass er, wie alle anderen auch, weiß, wovon er spricht.

Info
Aktionswoche zum Thema „Alkohol? Weniger ist besser“

Rund 7,3 Millionen Menschen in Deutschland trinken regelmäßig zu viel Alkohol. Die Aktionswoche Alkohol will sie nachdenklich machen. Vom 18. bis 26. Mai informieren Tausende Veranstalter über die Risiken durch Alkohol.

Die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen organisiert bundesweit bereits zum siebten Mal diese Aktionswoche.

Die Arbeitsgemeinschaft der Backnanger Sucht-Selbsthilfegruppen beteiligt sich zusammen mit der Psychosozialen Beratungs- und ambulanten Behandlungsstelle der Caritas in Backnang und der Media-Klinik Wilhelmsheim mit zwei Veranstaltungen an dieser Aktionswoche.

Am Mittwoch, 22. Mai, referiert Martin Enke, leitender Psychologe an der Median-Klinik, zum Thema „Wenn Genuss zur Sucht wird“ und Klaus Ackermann, Teamleiter an der Median-Klinik, zum Thema „Wege aus der Sucht – Perspektive für Betroffene und Angehörige“.

Am Donnerstag, 23. Mai, referiert Wolfgang Geisbühl, Fachreferent für betriebliche Suchtprävention bei der Caritas in Backnang, zum Thema „Suchtprobleme am Arbeitsplatz – Was ist zu tun“.

Beide Veranstaltungen finden von 12 bis 20 Uhr, Im Biegel 13, in Backnang statt. Bei den Veranstaltungen informieren Mitglieder der Backnanger Selbsthilfegruppen über ihre Arbeit und stehen dann auch zusammen mit den Referenten für Gespräche und Fragen bereit.

Weitere Infos zur Aktionswoche gibt es online unter www.aktionswoche-alkohol.de und unter E-Mail an karl.wacker@kabelbw.de.

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Erstellt:
21. Mai 2019, 06:00 Uhr

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