Gipfeltreffen in Backnang: Pflegeberufe brauchen positiveres Image

Unter dem Motto „Die Altenpflege in der Not“ treffen sich verschiedene Teilnehmer aus Politik und Praxis zum ersten Pflegegipfel des Kreises im Backnanger Bürgerhaus. Im Blickpunkt stehen die aktuellen und zukünftigen Herausforderungen in der stationären und ambulanten Pflege.

Die Ergebnisse des Pflegegipfels wurden von Jakob Kohlbrenner grafisch aufgezeichnet. Foto: Alexander Becher

© Alexander Becher

Die Ergebnisse des Pflegegipfels wurden von Jakob Kohlbrenner grafisch aufgezeichnet. Foto: Alexander Becher

Von Kristin Doberer

Backnang. Dass die Pflege aktuell und besonders zukünftig vor großen Herausforderungen steht, ist keine Überraschung. Die Bevölkerung wird auch im Rems-Murr-Kreis immer älter, immer mehr Menschen sind im Alter auf Pflegedienste angewiesen. Gleichzeitig fehlen durch den demografischen Wandel mehr und mehr Pflegekräfte, die sich um die alternde Bevölkerung kümmern – dass die Arbeitsbedingungen in dem Bereich nicht immer einfach sind, trägt sein Übriges zum Fachkräftemangel bei. Wie schafft man es nun, dass auch im Alter die Menschen ihre Lebensqualität und Würde beibehalten können? Wie kann man pflegende Angehörige unterstützen? Wie kann man Arbeitsbedingungen in der stationären und ambulanten Pflege verbessern? Und was können die Kommunen tun, um sich dieser Herausforderungen anzunehmen? Mit diesen Themen beschäftigten sich zahlreiche Vertreter aus der Politik, von den zuständigen Behörden und Gesundheitskassen sowie Führungs- und Fachkräfte von Verbänden und Pflegediensten gestern beim ersten Pflegegipfel des Rems-Murr-Kreises im Bürgerhaus.

Organisiert wurde der Pflegegipfel nach einer Forderung der Kreisräte, welcher Landrat Richard Sigel nur zu gerne nachkam: „Wir wollen dem Thema Raum geben. Aber wir werden heute Abend sicher nicht hier rausgehen und schon alle Probleme gelöst haben.“ Allein ein Gipfel reiche nicht, um die zahlreichen Herausforderungen zu bewältigen, Sigel fordert auch einen Rahmen von Bund und Land. „Nur so können aus Visionen Lösungen werden.“ Dass zumindest im Land das Thema schon auf der Agenda ist, zeigt unter anderem die Videobotschaft von Gesundheitsminister Manfred Lucha. „Wir brauchen eine umfangreiche und nachhaltige Pflegereform“, meint der Minister. „Dabei spielen die Kommunen einen zentrale Rolle: Wir brauchen wohnortnahe Angebote.“ Mit einem kommunalen Pflegegipfel und dem Austausch vor Ort sei man im Rems-Murr-Kreis schon auf einem guten Weg, lobt Lucha vom großen Bildschirm aus.

Fachkräfte finden Als eine der wohl größten Herausforderungen benennen mehrere Sprecher die fehlenden Fachkräfte – sowohl in der stationären als auch in der ambulanten Pflege. „Zum Teil müssen Stationen geschlossen werden, weil keine Mitarbeitenden gefunden werden“, berichtet Natascha Bobleter, Geschäftsführerin der Diakonie Mittleres Murrtal. Dabei kommen jeden Tag mehrere neue Anfragen für die ambulante Hilfe herein. Die Wartelisten bei den Pflegediensten seien lang, zum Teil müssen selbst verzweifelte Angehörige schlicht abgewiesen werden. „Eine Pflegetour mit rund 30 Patienten dauert mindestens acht Stunden, wir können gar nicht mehr leisten“, berichtet sie aus dem Alltag.

Auch in Pflegeheimen gibt es nur noch wenig Kapazität, das berichtet Thomas Sixt-Rummel, Regionalleiter der Paul-Wilhelm-von-Keppler-Stiftung, beispielhaft vom Haus Miriam in Waiblingen. Die Wartezeit liege bei rund einem Jahr. „Dabei geht es nicht nur um die Pflegefachkräfte, wir haben auch Probleme, Köche oder Personal für die Hauswirtschaft zu finden.“ Erschwert werde die Situation durch hohe bürokratische Hürden beim Einstellen ausländischer Pflegekräfte. Als Beispiel nennt er eine Praktikantin, die gerne eine Ausbildung angefangen und das wohl auch gut gemeistert hätte. Aufgrund eines Übertragungsfehlers auf der Aufenthaltsgenehmigung sei aber nie ein Ausbildungsvertrag zustande gekommen. „Wir brauchen hier eine Art Ombudsmann als Schnittstelle zur Ausländerbehörde. Wir beißen uns da die Zähne aus.“ Insgesamt fordert er eine Art trägerübergreifende Personalreserve, um das Personal bei Ausfällen zu entlasten.

Das Thema ist auch bei den Teilnehmern präsent. Martina Zoll zum Beispiel von der Diakoniestation Weissacher Tal macht aber nicht nur den demografischen Wandel dafür verantwortlich. „Ein Teil des Mangels ist hausgemacht. Immer wieder werden ausgebildete Fachkräfte für Verwaltungsarbeiten abgezogen.“ Die Politik müsse sich Gedanken machen, wie diese wieder für die Pflege am Menschen gewonnen werden können.

Wertschätzung Mit als Grund für die fehlenden Fachkräfte in der Pflege nennen fast alle Redner eine fehlende Wertschätzung für den Beruf. Hier müsse sich einiges ändern: Zum einen monetär durch „eine konsequente Weiterentwicklung bei der Bezahlung“, wie es Sixt-Rummel ausdrückt, viel mehr noch aber beim Blick der Gesellschaft auf den Beruf. „Klar ist der Beruf hart, aber es gibt auch viel Positives. Ältere Menschen können einem so viel zurückgeben“, sagt er. Dem stimmt auch Bobleter zu. „Pflege am Menschen ist ein schöner Beruf.“ Mehr Rückhalt durch Politik und Gesellschaft würde den Beruf wieder attraktiver machen. „Pflege muss wieder positiv besetzt werden“, meint dazu auch Ute Hauser, Geschäftsführerin der Alzheimer-Gesellschaft Baden-Württemberg.

Caring Communities Gleich mehrere Redner betonten: Pflege geht alle etwas an. „Altenpflege ist ein gesamtgesellschaftliches Thema“, sagt Alexander Schmid, Geschäftsführer der AOK Ludwigsburg-Rems-Murr. In diesem Zusammenhang fällt mehrmals der Begriff „Caring Communities“ (auf Deutsch: sorgende Gemeinschaften) als mögliches Zukunftskonzept. Dabei könne es sich zum Beispiel um Quartierslösungen handeln, sodass es weniger Anonymität in der Nachbarschaft gibt, um Apps zur Nachbarschaftshilfe oder um den Aufbau ehrenamtlicher Bürgerinitiativen, die älteren Menschen helfen. Hier seien vor allem die Kommunen in der Pflicht, so Hauser.

Finanzierung Besonders beim Thema der Finanzierung von Pflege im Alter sprechen sich sowohl Alexander Schmid, Geschäftsführer der AOK Ludwigsburg-Rems-Murr, als auch Natascha Bobleter unter anderem für sektorübergreifende Lösungen aus. Das heißt, dass die stationäre und die ambulante Pflege nicht nicht mehr getrennt voneinander behandelt werden. Unter der Wortneuschöpfung „Stambulanz“ forderte Schmid flexiblere Leistungsangebote und eine Auflösung des starr stationären und ambulanten Begriffs. Bobleter sieht die ambulanten Dienste bei der Finanzierung vernachlässigt. Als Beispiel nennt sie die Finanzspritzen für stationäre Einrichtungen während der Energiekrise. „Wir wurden dabei komplett ignoriert, für die Mehrkosten bei Benzin mussten die Pflegedienste selbst aufkommen. Diese können so in der Zukunft nicht überleben.“

Bürokratie Den wohl lautesten Applaus gab es beim Thema „Bürokratiewahnsinn“, wie es Bobleter ausdrückt. Man müsse eine Balance zwischen bürokratischer Verantwortung und guter Pflege finden. „Wir wollen unsere Zeit für die Pflege nutzen und nicht zum Ausfüllen von Formularen“, sagt sie. Dem stimmt auch Sixt-Rummel im Namen der stationären Einrichtungen zu: „Eigentlich muss man gerade jetzt innovativ sein, aber durch die hohe Regelungsdichte wird einem das schwer gemacht.“ Und auch die Digitalisierung lasse zu wünschen übrig. „Uns wäre ja schon sehr geholfen, wenn wir endlich das Fax abschaffen könnten.“

Pflegende Angehörige Während häufig die Pflegeheime oder Pflegedienste im Gespräch sind, bleiben die pflegenden Angehörigen in der Debatte um die Zukunft der Altenpflege oft unerwähnt. Dabei werden rund 70 Prozent der Pflegebedürftigen zu Hause betreut, lediglich ein Viertel erhält die Hilfe von ambulanten Diensten. Ute Hauser von der Alzheimer-Gesellschaft Baden-Württemberg fordert frühzeitige Beratung, Unterstützung und Anerkennung für pflegende Angehörige. „Sie sind mit die wichtigsten Personen im Pflegesystem.“

Vernetzung Aber es sind längst nicht alle Teilnehmer angereist, um die ganz großen Probleme der Altenpflege aus der Welt zu schaffen. „Mir geht es hier vor allem darum, Ideen zu sammeln und mit anderen Kontakte zu knüpfen“, sagt Claudia Haug, die von den Maltesern Rems-Murr ein Café für Menschen mit Demenz in Winnenden anbietet. Auch wenn für viele der großen Herausforderungen noch keine konkreten Lösungsansätze gefunden werden konnten, so wurde zumindest das Ziel einer ersten Vernetzung erreicht.

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Erstellt:
25. Mai 2023, 06:00 Uhr

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