Gotischer Chor diente als Treppenhaus

Blick in das Archiv von Peter Wolf: Einst war der Stadtturm ein Teil der Michaelskirche für die einfache Bevölkerung. Der gotische Chor aus dem 13. Jahrhundert wurde später als Treppenhaus umfunktioniert.

Das zweigeschossige Treppenhaus im gotischen Chor 1999. Ein Jahr später wurde es abgerissen. Repros: P. Wolf

Das zweigeschossige Treppenhaus im gotischen Chor 1999. Ein Jahr später wurde es abgerissen. Repros: P. Wolf

Von Claudia Ackermann

BACKNANG. Weithin sichtbar thront das Wahrzeichen der Stadt hoch oben am Burgberg. Die Ursprünge des heutigen Stadtturms gehen auf das 12. Jahrhundert zurück. Einst gehörte der Turm zur Pfarrkirche St. Michael. Sie wurde etwas unterhalb der Stiftskirche St. Pankratius erbaut, nachdem um 1116 ein Augustinerchorherrenstift eingerichtet wurde. Die Chorherren wollten ihre Stiftskirche für sich exklusiv haben. So ließen die Markgrafen von Baden für die Backnanger Bevölkerung eine neue Pfarrkirche errichten, die 1122 dem heiligen Michael geweiht wurde, informiert das Backnang-Lexikon.

Weiter ist darin zu erfahren: Bei der teilweisen Zerstörung von Backnang durch Heinrich von Neuffen im Zuge der Auseinandersetzungen zwischen Kaiser Friedrich II. und seinem Sohn Heinrich VII. im Jahr 1235 dürfte auch die Michaelskirche schwer in Mitleidenschaft gezogen worden sein. Glanzstück der wiederaufgebauten Michaelskirche, die zu den ersten gotischen Kirchen in Deutschland gehörte, war der Turmchor mit seinem polygonalen Grundriss, den höchst originellen Kapitellen und dem neunstrahligen Gewölbe, heißt es im BacknangLexikon weiter.

Nach der Einführung der Reformation im Jahr 1534 verlor die Michaelskirche ihre Funktion als Pfarrkirche, da die Backnanger Bevölkerung nach der Auflösung des Augustinerchorherrenstifts nun in die Stiftskirche zum Gottesdienst ging. Der Kirchturm der Michaelskirche wurde 1614/15 von Landesbaumeister Heinrich Schickhardt zum Stadtturm ausgebaut. Er erhöhte den ehemaligen Kirchturm um weitere Geschosse in einer unregelmäßigen Achteckform. Dadurch entstand der Stadtturm, auf dem ein Hochwächter seinen Dienst versah. Der Turmwächter, der mit seiner Familie hoch oben im Turm wohnte, hatte einst die Stundenglocke zu läuten und im Brandfall mit Trompete und Glocken die Bürger zu alarmieren.

Beim Stadtbrand 1693 wurden auch die Fachwerkgeschosse des Turms zerstört.

Beim Stadtbrand von 1693 brannte das Kirchenschiff aus und die Fachwerkgeschosse des Turms wurden zerstört. Baumeister Johann Ulrich Heim leitete 1699 den Wiederaufbau. Die Türmerwohnung wurde zwar wieder in Fachwerk errichtet – aber verputzt. Erst 1935 legte man das Fachwerk frei. Nach dem Brand ließ man zunächst das Kirchenschiff als Ruine liegen und ersetzte es 1816/17 durch das Turmschulhaus für die Volksschule.

Das Treppenhaus und Zwischendecken für die Flure des Schulgebäudes baute man in den gotischen Chor der ehemaligen Michaelskirche ein. Nicht jeder war von dieser Lösung begeistert. Helmut Bomm verweist in seinem Buch „Was Straßenschilder erzählen“ auf die Oberamtsbeschreibung von 1871, in der es heißt: „Im unteren Stock des Stadtturms befindet sich ein Kleinod“, von dem als einem „Prachtbau“ geschrieben wurde. Weiter heißt es dort: „Eine Herstellung oder auch nur eine Ausräumung und Reinigung dieses so sehr mißhandelten Raumes würde eines der edelsten Bauwerke unseres Landes ans Licht ziehen.“ Bis der gotische Chor in neuem Glanz erstrahlen würde, sollte es noch rund 130 Jahre dauern.

Die noch heute bestehende Tradition der Turmbläser ist schon früh belegt. In der Stadtrechnung von 1828 werden erstmals ein „Stadtzinkenist“ (Zink = Blasinstrument/Zinkenist = im Schwäbischen: Stadtmusikant) besoldet, wird in der Stadtchronik aufgeführt. Im Jahr 1869 wurde Thomas Zink aus Stuttgart als Stadtmusikus und Türmer eingestellt. Er blies mit seinen Gesellen zur Mittagszeit und spielte bei besonderen Anlässen und Festen. Nach seinem Tod übernahm sein Sohn Hermann Zink im Jahr 1893 die Stelle als Stadtmusikus und Türmer. 1924 trat er als letzter Hochwächter in den Ruhestand, heißt es weiter in der Stadtchronik.

In seinem Buch „Was Straßenschilder erzählen“ beschreibt Helmut Bomm: Auf dem Stadtturm war die Wohnung des städtischen Hochwächters, der bei einem Brand Feuersignale blasen musste. Bis der letzte Hochwächter in den Ruhestand trat, war dieses Amt in Händen der Musikerfamilie Zink. Auch das stündliche Schlagen der Zeitglocke gehörte zum Amt des Hochwächters. Er konnte mittels zweier Riemen von seinem Wohnzimmer aus den Stundenschlag der Stadtturmuhr betätigen. Aus dem Stipendium eines Bürgers wurde das tägliche Turmblasen bezahlt (12 bis 12.15 Uhr). Im „Backnanger Lied“, das 1906 von Reichsbahnrat Sinn gedichtet wurde, ist ein Vers dem letzten Hochwächter gewidmet: „Wenn der Zink mit seine Gsella blost vom Turm om d’Mittagsstond, plärrt vor Freud em ganza Städtle Gans ond Gockel, Katz ond Hond.“

Im Jahr 1925 erhielten die Glocken einen elektrischen Antrieb und 1950 wurden im Stadtturm vier neue Glocken installiert. Heute wird nicht mehr täglich um die Mittagszeit vom Turm geblasen, aber die lange Tradition der Turmbläser wurde dennoch beibehalten. Jeden Sonntag vor dem Gottesdienst und an Feiertagen trifft sich auf dem Stadtturm ein Bläserensemble. Die Backnanger Turmbläser intonieren von ihrem erhöhten Standpunkt aus Volkslieder, Choräle und andere, zumeist geistliche Musik, die jeweils ab 9 Uhr für etwa 20 Minuten im weiten Umkreis zu hören ist.

Bis 1992 diente das Turmschulhaus als Schulgebäude. Zuletzt war hier und im Bandhaus die Schickhardt-Realschule untergebracht. 1999 erfolgte eine umfangreiche Sanierung des 45 Meter hohen Wahrzeichens der Stadt. Ein Jahr später erfolgte der Abriss des zweigeschossigen Treppenhauses und der Zwischendecken für die Flure im gotischen Chor. Die in Backnang umstrittene Skulpturentreppe als Fluchttreppe wurde 2001 angebaut. Über sie oder durch die Räumlichkeiten der Städtischen Galerie gelangt man in die oberen Stockwerke des Turmschulhauses und von dort über Treppen, vorbei an den Glocken, zur ehemaligen Türmerwohnung. Heute werden in den hoch oben gelegenen Räumen auf Wunsch Trauungen vorgenommen. Schon lange wird die schmale, ausgetretene Steintreppe zum Turm, die sich auf der Seite zum Oelberg befindet, nur noch selten genutzt.

Auf Initiative eines Fördervereins wurde der elf Meter hohe gotische Chor im Stadtturm 2003/04 aufwendig saniert und ist heute ein Teil der Städtischen Galerie, in dem Exponate besonders eindrucksvoll zur Geltung kommen.

Im Jahr 1950 wurden im Stadtturm vier neue Glocken installiert.

Im Jahr 1950 wurden im Stadtturm vier neue Glocken installiert.

In schwindelnder Höhe befestigten Männer einen neuen Wetterhahn in den 1930er-Jahren.

In schwindelnder Höhe befestigten Männer einen neuen Wetterhahn in den 1930er-Jahren.

Ausstellung im Helferhaus

Peter Wolf zeigte die Fotoausstellung „Rund ums Rathaus“ im Rahmen der Zeitreisen-Serie im Kabinett im Helferhaus, Petrus-Jacobi-Weg 5, in Backnang, nur wenige Tage. Nun musste auch das Helferhaus wegen der Entwicklung der Coronazahlen wieder schließen. Wann die Ausstellung wieder geöffnet wird, ist noch unklar.

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Erstellt:
6. April 2021, 11:30 Uhr

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